Im Reichstage (1870 bis 1874) 45
Ich fand auch den Fürsten von Bückeburg, den ich seit 1847 nicht gesehen
hatte. Wir unterhielten uns von alten Zeiten, doch schien er ziemlich
zerstreut, denn bei jeder Pause in der Konversation fragte er mich: „Nun,
wie geht es deiner Frau?2“ Dieses Intermezzo mag sich wohl zehnmal
wiederholt haben. Um 1 Uhr war ich endlich wieder zu Hause.
Heute, den 23., Sitzung der Abteilung, der ich zugeteilt bin. Die
Konservativen wollten mich zum Vorstand wählen, da aber die National-
liberalen die Mehrheit hatten und diese nach der bei ihnen beliebten Partei-
gewohnheit nur den wählen, der sich ihnen mit Leib und Seele verschreibt
(gleichwie die Jesuiten), so wurden Hölder von Stuttgart und Marquardsen
zu Vorständen gewählt. Die Plenarsitzung begann um 11½ Uhr. Simson
wurde zum ersten, ich zum zweiten, Weber zum dritten Präsidenten gewählt.
Simson sprach seinen Dank in den gewohnten fein und zierlich gewundenen
Sätzen aus. Meine Rede fand viel Beifall. Viktor, der oben zuhörte,
ebenso Weichs bestätigten mir den günstigen Eindruck. Nach der Sitzung
Besprechung mit den Altliberalen und einigen Sachsen, um eine neue
Zentrumsfraktion zustande zu bringen. Wir hoffen noch, daß es gelingen
wird. Mit den Nationalliberalen können wir nicht gehen. Mit den Frei-
konservativen allein wollen wir nicht gehen, ebensowenig mit dem katho-
lischen Zentrum. Es handelt sich also darum, die Wilden zu sammeln
und dann eine Fusion mit den Freikonservativen anzubahnen. Letztere
sind unzufrieden, daß sie uns nicht sofort einfangen konnten. „Wir“ heißt
Roggenbach, Langenburg, Wagner, Hörmann, Luxburg u. a. Ob Barth
mitgehen wird und von der bayrischen Fortschrittspartei viele zu uns
kommen werden, ist zweifelhaft.
Rede des Fürsten nach der Wahl zum ersten Vizepräsidenten
des Reichstags am 23. März 1871.
Ich bin bereit, die Ehrenstelle anzunehmen, die mir der Reichstag
übertragen hat. Es wird mir schwer, den entsprechenden Ausdruck zu
finden für das tiefe Gefühl des Danks, mit welchem mich die hohe Aus-
zeichnung erfüllt, deren Sie mich würdig erachten. Ich lege um so höheren
Wert auf diesen Beweis Ihres ehrenden Vertrauens, als ich einem Lande
angehöre, dessen Vertretung die letzte gewesen ist, welche den Verträgen
beigestimmt hat, deren Abschluß uns hier zusammenführt. Lassen Sie mich
daher in Ihrer Wahl eine günstige Vorbedeutung, ein Zeichen zunehmen-
der Aussöhnung der Gegensätze erblicken. Ja, meine Herren, wir haben
in Bayern gezögert, den Verträgen beizustimmen, weil wir der Einheit des
Gesamtvaterlands den altgewohnten Gedanken abgesonderten staatlichen
Bestehens zum Opfer bringen mußten. Wir haben aber nicht gezögert —