522 Die Reichskanzlerschaft und das Lebensende (1894 bis 1901)
kennen lernte. Eine vertrauenerweckende Persönlichkeit. Liechtenstein gab
mir gute Nachrichten von Konstantin, die er von seiner Schwester erhalten
hatte. Er will heute zu mir kommen.
Tischgespräche:
Lobanow sagte Abends nach dem Essen: „Eigentlich haben wir Europa
einen großen Dienst geleistet, daß wir uns Frankreichs angenommen haben.
Gott weiß, was diese Leute angefangen hätten, wenn wir sie nicht am
Zügel hielten.“ Ich finde, es liegt etwas Wahres darin. Mit Durnowo
sprach ich von dem Gemeindeeigentum in Rußland und riet ihm, damit
aufzuräumen und das individuelle Eigentum, wie in Litauen, einzuführen.
Er sagte, er gehe damit um, wolle zunächst die Zeit auf zwölf Jahre
ausdehnen. Merkwürdig sei aber, daß die Auswanderer in Sibirien,
denen man Privateigentum gebe, das gemeinschaftliche Eigentum verlangten.
Lobanow wußte gar nicht, daß in den westlichen Provinzen Privateigentum
der Bauern herrscht!
Aufzeichnung betreffend die Militärstrafprozeßordnung
31. Oktober 1895.
.. Ich habe in Bayern seit lange, schon seit 1849, auf seiten der
nationalen Partei gestanden. Da es aber in Bayern nur Liberale oder
Partikularisten respektive Ultramontane gibt, so mußte ich mich auf die
liberale Partei stützen. Als Anhänger derselben bin ich bayrischer Minister
geworden. Als solcher habe ich auch die heute geltende Militärstrafprozeß=
ordnung eingebracht, in der die Oeffentlichkeit des Verfahrens durchgeführt
ist. Würde ich jetzt ein Gesetz einbringen, das die Oeffentlichkeit aus-
schließt, so stände ich dem preußischen Kriegsminister gegenüber, der
die Oeffentlichkeit fordert, ich würde also preußischer sein als ein preußischer
General. Ich träte in Widerspruch mit meiner Vergangenheit und wäre
der Gefahr ausgesetzt, daß man mich im Reichstage an das von mir ein-
gebrachte bayrische Gesetz erinnerte. Dann würde ich verhöhnt und lächerlich
gemacht werden, und ein diskreditierter Reichskanzler würde für den Kaiser
von keinem Nutzen sein. Geht also der Kriegsminister wegen dieses Ge-
setzes, so werde ich auch gehen.
Im November 1895.
Ein alter bayrischer Jurist, ein durch und durch nationalgesinnter,
vorurteilsfreier Mann, mein Mitarbeiter während meines Ministeriums
in den Jahren 1866—70, schreibt mir: „Ich bitte dringend, treten Sie
nicht für einen Entwurf ein, der die Oeffentlichkeit ausschließt. Die all-
gemeine Stimmung ist in diesem Punkte ganz toll. Wenn Seine Mcjestät