Full text: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Zweiter Band. (2)

58 Im Reichstage (1870 bis 1874) 
sache machte. Dadurch kamen wir nun in die größte Verlegenheit. Eines- 
teils wäre es absurd gewesen, dem Reichskanzler wegen dieser Formsache 
ein Mißtrauensvotum zu geben, andernteils konnte man doch dem Reichs- 
tag nicht zumuten, bloß auf den Wink Bismarcks einen unter nur 
schwachem Widerspruch des Bundeskommissärs angenommenen Beschluß 
wieder aufzuheben. Alles rannte ratlos umher. Die Zentrumspartei, 
an ihrer Spitze Windthorst, freute sich über unfre Verlegenheit, die Fort- 
schrittspartei, verrannt wie immer, wollte den Konflikt, die Rechte die 
Unterwerfung. Ich riet, die Debatte zu vertagen, und meldete mich dazu 
bei Simson zum Wort. Vorher aber kam Hennig und beantragte Zu- 
rückweisung an die Kommission. Dem schloß ich mich nun mit wenigen Worten 
an, und mit knapper Moajorität wurde unser Antrag angenommen. Abends 
war dann Kommissionssitzung. Hier saß nun auch Bismarck, anfangs sehr 
borstig, bis er durch kluge Behandlung der Kommissionsmitglieder endlich 
dahin gebracht wurde, daß er gar nicht mehr wußte, warum er sich er- 
bost hatte. Der stets geschäftige und kluge Friedenthal brachte mit Lamey 
einen Vorschlag, der alle Teile versöhnte, und so endigte dieser Zwischen- 
fall in befriedigender Weise. Heute war wieder Sitzung anberaumt. 
Ein Ultramontaner beantragte aber Auszählung, und da fand sich, daß 
wir nur 172 waren, worauf Simson erklärte, er werde die nächste Sitzung 
am Mittwoch nach Pfingsten um 1 Uhr halten. So reist nun alles auf 
einige Tage ins Freie. 
Berlin, 1. Juni 1871. 
Die Artikel in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ und in der 
„Provinzialkorrespondenz“ gegen den Reichstag haben in den Kreisen der 
Abgeordneten ebenso viel Erstaunen als Mißstimmung erregt. Sie sind 
durchaus nicht gerechtfertigt, und man fragt sich umsonst, was Bismarck 
dazu veranlaßt haben könnte, in dieser Weise vorzugehen. Heute kam 
Miquel in der Sitzung zu mir und Bernuth und schlug uns vor, wir 
möchten uns auch mit der nationalliberalen Partei vereinigen und be- 
wirken, daß das Pensionsgesetz zurückgezogen und an dessen Stelle nur ein 
Kreditgesetz vorgelegt werde, welches dem Kaiser die Summen zur Dis- 
position stelle, welche die Regierung für die im gegenwärtigen Kriege in- 
valid Gewordenen nötig habe. Bernuth war dem Gedanken geneigt, 
Roggenbach dagegen, weil er, und wohl mit Recht, bemerkte, die National- 
liberalen wollten die Schwierigkeiten, welche das Gesetz biete, umgehen 
und sich dahinter wegdrücken. 
Nach der Sitzung ging ich noch zu Simson und fragte ihn um Rat, 
was ich tun sollte, wenn der Kaiser mich danach frage. Simson sprach 
im Sinne Miquels und ohne Zweifel unter dessen Inspiration; er sieht
	        
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