Im Reichstage (1870 bis 1874) 67
Ich überließ diese ihrem Schicksal und legte mich zu Bett. Während
Erlangen bei Tag so still ist wie ein Kirchhof, läuft alles singend und
johlend während der Nacht umher, was mir meine Ruhe störte. Den
andern Morgen besuchte ich Professor Marquardsen und Professor Sörgel.
Letzterer zeigte mir die Merkwürdigkeiten, und beide fuhren dann um ½2 Uhr
nebst mehreren andern Notabilitäten der Fortschrittspartei mit nach Forch-
heim. Dort erwartete mich eine Deputation mit dem Bürgermeister und
Bezirksamtmann an der Spitze auf dem Bahnhof. Eine große Menschen-
masse stand umher und staunte mich an. Nach verschiedenen Begrüßungen
gingen wir zuerst in das naheliegende Hotel, wo Kaffee getrunken wurde.
Um 3 Uhr wurde ich ins Rathaus gefahren, wo im Saal schon eine
Menge Menschen warteten. Die Feier begann mit einer Rede des Bürger-
meisters, der mir am Schluß seiner Rede das Wort zu meinem Bericht
gab. Eine Art Rednerbühne mit rotem Tuch befand sich vorn am so-
genannten Podium. Glücklicherweise hatte ich mich so gut vorbereitet, daß
ich frei sprechen konnte. Ich hielt nun meinen Vortrag, der etwa eine
Stunde dauerte. Nachdem ich geendet, sprach ein Dr. Schmidt und erklärte
im Namen der Wähler ihre Zustimmung. Niemand nahm weiter das
Wort. Der Bürgermeister brachte mir ein Hoch aus, worauf ich einige
Worte erwiderte. Dann ging ich mit meiner Suite in eine Kirche, um
dort die Merkwürdigkeiten, Bilder von Wohlgemuth u. s. w. anzusehen,
und auch in die alte Kaiserwohnung. Die Stadt ist altertümlich und
interessant. Um 5½ Uhr fuhren wir auf den „Keller“, ein sehr hübsches
Etablissement mit schönem Eichenwald und Fernsicht. Dort wurde Bier
getrunken, dazu Blechmusik, Liedertafel, gegenseitige Hochs u. s. w. Abends
9 Uhr wieder im Gasthof und um 2 Uhr Abfahrt nach München.
Berlin, 20. Oktober 1871.
Ueber die Ankunft und die ersten Tage nichts Besonderes zu berichten.
Große Liebenswürdigkeit von allen Seiten für mich. Dies zeigte sich bei
der Konstituierung der Abteilungen, wo ich (in der dritten) zum Vorsitzenden
gewählt wurde. Münster, der auch in der Abteilung war und Anspruch
darauf zu haben glaubte, war etwas verstimmt. Alle Fraktionen waren
vertreten, und alle wählten mich. Ebensogut ging es bei der Wahl zum
ersten Vizepräsidenten. Hier wurde ich gestern mit 193 von 213 Stimmen
gewählt. Nach der Sitzung war ich beim Kaiser. Er war wie immer
sehr liebenswürdig. Abends lange Beratung des Bureaus oder Vorstandes
bei Simson über die Restaurationsfrage. Die verschiedenen Wirte wurden
durchgenommen, noch kein Beschluß gefaßt. Später Fraktionsberatung,
wo ich beauftragt wurde, in den nächsten Tagen einen Vortrag über Zivil-
ehe zu halten. Das wird viel Arbeit machen.