Im Reichstage (1870 bis 1874) 69
der norddeutschen Fortschrittspartei, unfre Ansicht zu kennen, von den
Ursachen, welche zu dem Wunsch nach Zivilehe geführt hätten, von der
historischen Entwicklung der Formen der Eheschließung, von den Bedenken,
welche der Zivilehe entgegenstünden, und schloß mit der Erörterung der
Kompetenzfrage. Daran knüpfte sich eine längere Debatte, die bis 10 Uhr
dauerte, und dann unterbrochen wurde. Die Sachsen waren gegen die
Zivilehe, die Bayern und auch die Preußen dafür. Man kam aber
schließlich darin überein, daß man vorsichtig vorgehen müsse. Die Dis-
kussion wurde auf heute vertagt.
Als ich heute in die Fraktionssitzung ging, begegnete mir Lasker, der
mir seine Bedenken gegen den Antrag mitteilte. Er ist mit mir darin ein-
verstanden, daß es besser wäre, wenn die einzelnen Staaten erst versuchten,
die Zivilehe einzuführen. Gelänge ihnen das wegen des Widerstandes im
Lande nicht, so könnte dann immer der Reichstag eintreten. Jetzt sei es
noch zu früh, das Odium auf uns zu nehmen. Bismarck sei nicht gerade
dagegen, aber auch nicht dafür. Lasker war der Meinung, man solle die
Sache beruhen lassen, schon der Gefahr wegen, daß die Klerikalen infolge
dieses Antrags in eine Allianz mit den Konservativen kommen könnten.
In der Fraktion wurde wieder viel leeres Stroh gedroschen. Schließlich
wurden Bernuth, Roggenbach und ich beauftragt, uns mit den andern
Fraktionen über die Sache ins Benehmen zu setzen. Mir scheint es über-
flüssig, daß der Reichstag dem bayrischen Ministerium die Kastanien aus
dem Feuer hole.
Berlin, 29. Oktober 1871.
Die Angelegenheit bezüglich der Zivilehe ist in ein neues Stadium
getreten. Die Bedenken gegen die Opportunität des Antrags haben die
Oberhand gewonnen, und man hat den Antrag totgemacht, indem man
einen Antrag auf Ausdehnung der Kompetenz des Reichstags auf das
ganze Zivilrecht einbringen will. Hörmann und Fischer waren dagegen
und wollten erst hören, was das Ministerium in München dazu sagte.
Während ich auf der Jagd war, kamen Roggenbach und Fischer in der
Fraktion aneinander, und ersterer wollte schon die ganze Fraktion sprengen
und zeigte sich in dieser Sache als ein etwas aufgeregter Politiker, be-
ruhigte sich aber wieder. Nach und nach sahen alle Fraktionsmitglieder
ein, es sei besser, sich dem obigen Antrag anzuschließen, welcher von den
Nationalliberalen eingebracht, von den Freikonservativen und der Fort-
schrittspartei unterstützt und auch vielleicht von den Konservativen unter-
zeichnet werden wird. Ich wurde als Antragsteller mitaufgeführt.
Gestern Abend war Soiree der Abgeordneten bei Bismarck. Die
Fürstin war krank, nur die Tochter und Frau von Spitzemberg bildeten
die Damenwelt. Als ich bei den beiden Damen saß, kam auch Bismarck.