74 Im Reichstage (1870 bis 1874)
habe ihre letzten Mittel verwendet, sie sei beim Bannstrahl angekommen.
Auch in Norddeutschland entspinne sich der gleiche Kampf. Forckenbeck
meint, daß die Liberalen Fortschritte machten und die Ultramontanen an
Einfluß verlören (eine etwas optimistische Ansicht!). Es sei ihm nahe-
gelegt worden, ein Gesetz in Vorschlag zu bringen, das den Besitz der
Gemeinden am Kirchenvermögen regele; doch habe er die Sache als un-
durchführbar aufgegeben. Es bleibe nichts andres übrig als der vor-
liegende oder vorzulegende Gesetzentwurf. Doch müßten alle liberalen
Parteien einig sein und die Presse es verteidigen.
Zedlitz erklärt sich im Namen der Freikonservativen dafür.
Kraußhold hat Bedenken, daß die Polizei in die Kirche getragen
werden solle.
Bennigsen dafür. Er rät, daß die liberale Reichspartei den Antrag
aufstellen und dann den andern Fraktionen mitteilen solle.
Das geschah nun den andern Tag. Doch fanden sich so viele redak-
tionelle Bedenken, auch fielen wieder so viele ab, daß sich Lutz entschloß,
den Antrag selbst in den Bundesrat und dann an den Reichstag zu
bringen.!)
Am 10. November Nachmittags beim Kronprinzen, der mich fragte,
ob ich glaube, daß das Reich sich konsolidiere. Die Abneigung des
Kaisers, den preußischen König und das Preußentum aufzugeben, die
diese Abneigung fördernden Bemühungen des märkischen Adels flößen ihm
Bedenken ein.
Am 11. hatte ich ein Diner bei Bunsen, dem ein Herr Childers,
früherer Marineminister, beiwohnte. Ich ging mit Lasker, der auch dabei
war, nach Hause. Lasker, der etwas vom Diner erregt war, sprach über
die süddeutschen Minister mit unverhehlter Mißachtung. Namentlich Mitt-
nacht hat seinen ganzen Hohn erregt. Das Resümee des Gesprächs war
eigentlich, daß diese Minister ihre Monarchen verrieten und daß man hier
davon profitiere. Abends Soiree bei Redern.
Den 22. November war die Sitzung über den Geschäftsordnungs-
antrag, wobei ich präsidierte. Der Antrag Windthorsts) schien so harm-
los, daß ich bei der Abstimmung die Sache vielleicht zu leicht nahm.
1) Der Bundesrat nahm den Antrag am 19. November an. Die Beratung
im Reichstage begann am 23. November und wurde durch eine Rede des bayrischen
Ministers Lutz eingeleitet.
2) In der Sitzung vom 8. November 1871 hatte der Präsident mit Ermächti-
gung des Hauses dem Abgeordneten Bebel das Wort entzogen. In der Sitzung
vom 9. November griff Bebel diese Entscheidung des Hauses als der Geschäfts-
ordnung widersprechend an, weil nach § 43 der Geschäftsordnung nur nach zwei-
maligem Rufe „zur Ordnung“ die Entziehung des Wortes zulässig sei. Der
Präsident erwiderte, daß er zwar nicht zweimal die Worte: „Ich rufe Sie zur