90 Im Reichstage (1870 bis 1874)
Von allen Seiten wurde ich von angetrunkenen Leuten begrüßt und
mir von der Hoffnung gesprochen, ich würde wieder Minister werden.
Lutz hält sich fern. Ich glaube mehr und mehr, daß der Vorschlag, den
Lutz und die übrigen Minister bezüglich meiner an den König gemacht
haben, nicht ernst gemeint war und daß Lutz doch hofft, noch selbst Minister-
präsident zu werden. 1)
Abends sogenanntes Kellerfest beim Augustinerbräu. Ich wurde sofort in
die Bierhalle geleitet, wo ich dem unvermeidlichen Prinzen Ludwig gegen-
über vor einem großen Bierkrug zwischen Madame Brey und Madame
Wiedenhofen saß. Döllinger wurde mit „nicht enden wollendem“ Jubel
begrüßt. Die Hitze und die neugierige Menschenmasse waren unausstehlich.
Um 9 Uhr hatte ich genug stupide Gesichter gesehen und ging, während
ein Feuerwerk abgebrannt wurde, unbemerkt nach Hause.
Aus einem Briefe des Fürsten an seinen Schwager, den
Fürsten Friedrich Karl zu Hohenlohe-Waldenburg.
Aussee, 9. August 1872.
Abgesehen von der Tätigkeit des Ordens in der Presse, ist es bekannt,
daß die Jesuiten überall als die Feinde Deutschlands auftreten. Ganz
besonders ist dies in Posen der Fall, wo die Jesuiten unter Leitung des
Erzbischofs Ledochowski offen das Deutschtum bekämpfen. Hätte man sie
ferner gewähren lassen, so würden die „Stützen der Autorität“ Posen bald
revolutioniert haben. Gerade diese polnischen Intrigen des Jesuitenordens
waren das wesentliche Motiv, gegen ihn vorzugehen. Bismarck scheute
den Kampf. Er wußte sehr wohl, daß der Kampf nicht bei den Jesuiten
stehen bleiben würde. Er hatte früher den Orden als Alliierten gegen
die Revolution gefördert. Allein er ist schließlich gezwungen worden, seine
früheren Freunde aufzugeben. Der Jesuitenorden kann gar nicht anders
als ein Reich bekämpfen, dessen Grundlage die Parität der Konfessionen
ist. Eine Grundlage, die der Orden nie anerkannt hat und auch nie anerkennen
wird. Folgerecht ist ihm die protestantische Hohenzollerndynastie an der
Spitze von Deutschland ebenso verhaßt. Ich glaube, ein Jesuit würde es
für eine Beleidigung ansehen, wenn man von ihm annähme, daß er ein
Förderer des neuen Deutschen Reichs sein könnte. Daß der Kampf gegen
die Jesuiten nicht bei diesen stehen bleiben wird, ist allerdings wahrschein-
lich und sehr zu beklagen. Wenn die günstige Stellung, welche die katho-
1) Die Versuche des bayrischen Gesandten in Stuttgart, von Gassers, zur Bildung
eines ultramontan-partikularistischen Ministeriums mißlangen. Am 19. September
wurde der bisherige Finanzminister von Pfretzschner zum Ministerpräsidenten und
Minister des Auswärtigen ernannt.