Full text: Rechtslexikon. Zweiter Band. Gad - Otto. (2.2)

Gemeinde, Gemeindeordnungen. 45 
ahmten, beruhte auf dem einfachen und unverhüllt ausgesprochenen Gedanken, daß 
die G. nichts sei, als eine geographische Unterabtheilung des Staatsgebiets und 
die Gemeindebürgerschaft nichts, als eine numerische Abtheilung der Staatsunter- 
thanen. Ein ernannter Präfekt oder Maire regierte diesen Staatstheil als willen- 
loser Agent der Centralgewalt; ein berathendes conseil, das ursprünglich ebenfalls 
auf Präsentation ernannt oder doch nur unter großen Beschränkungen gewählt ward, 
trat ihm als lokale Interessenvertretung in untergeordneter und unselbständiger 
Stellung zur Seite; und auch der so konstituirte Körper wurde in strengster Ab- 
hängigkeit von den höheren Verwaltungsinstanzen der staatlichen Büreaukratie er- 
halten, so daß seine gesammte politische Bedeutung als Delegation von Staats- 
funktionen und selbst seine privatrechtliche Persönlichkeit als widerrufliche Konzession 
des Staats erschien. Am wenigsten gestand man den so jedes eigenen Lebens ent- 
kleideten G. ein Selbstbestimmungsrecht zu, vermöge dessen sie ihren Organismus 
nach individuellen Verhältnissen hätten um= oder fortbilden können. Vielmehr 
suchte man durch uniformirende und bis ins kleinste Detail reglementirende Gem. Ordn. 
jeden Rest des munizipalen Sonderlebens gewaltsam zu ertödten und die entseelten 
Körper nach Utilitätsrücksichten in Maschinen zu verwandeln, welche von Einem 
Centralpunkte aus gleichmäßig eingerichtet, gestellt und bewegt werden konnten. 
Noch heute hat man in Frankreich dies System nur zu mildern, nicht seine Grund- 
lagen aufzugeben vermocht; noch heute liegt in der Zerstörung der Kommunen der 
Hauptgrund, welcher die Franz. Centralisation erzeugt und die Franz. Freiheit so 
problematisch macht; und wenn heute von den einsichtigsten Staatsmännern des 
Nachbarlandes die Wurzel des Uebels erkannt wird, so wird man doch schwerlich 
mit derselben Leichtigkeit, mit der man sie niedergerissen, die G. wieder aufbauen, 
noch wird man den erloschenen Munizipalgeist durch einfaches Dekret neu zu er- 
wecken vermögen. In Deutschland dagegen war glücklicherweise die Herrschaft des 
Franz. Munizipalsystems weder dauernd, noch vollständig genug, um das tausend- 
jährige Gemeindeleben zu vernichten. So tief die alten Korporationen gesunken 
waren, sie boten den Anknüpfungspunkt für eine reformatorische und organisatorische 
Gesetzgebung, welche den Rahmen für die Entwickelung eines verjüngten Gemeinde- 
lebens geschaffen und stetig erweitert hat. 
Das leuchtende Vorbild der neueren Deutschen Gesetzgebungen stellt derselbe 
Staat hin, in dem der Staatsbegriff am schroffsten der Gemeindefreiheit gegenüber- 
getreten war. Die Preuß. Städteordn. v. 19. Nov. 1808, die Schöpfung Stein's, 
den man um ihretwillen, wie wol gesagt ist, mit mehr Recht den Deutschen Städte- 
gründer nennen könnte als Heinrich I., erkannte zum ersten Male wieder die Stadt 
als selbständiges bürgerliches Gemeinwesen an, übertrug ihr die Selbstverwaltung 
und legte ihr die Selbstverantwortung auf und schuf neben einem kollegialischen 
Magistrat eine von der Bürgerschaft nach mäßigem Cenfus periodisch gewählte 
Stadtverordnetenversammlung in repräsfentativer Stellung. Ein kühner, großartiger 
Geist weht in diesem Gesetz, das kaum von einem späteren erreicht ist, so große 
Fortschritte auch im Einzelnen gemacht sein mögen. Nur wer die jämmerliche 
Verkommenheit des von Spießbürgerthum und Zunftgeist vergifteten städtischen Ge- 
meindelebens der Vorepoche kennt, vermag die Kühnheit des Gesetzes zu würdigen. 
Aber der Preuß. Bürgerstand rechtfertigte das in ihn gesetzte Vertrauen! Und bald 
folgten die übrigen Deutschen Staaten, indem sie theils zunächst das Franz. Munizipal- 
system unter Restauration des alten Zustandes beseitigten, theils in ihre Verfassungs- 
urkunde einzelne positive Bestimmungen über Gemeinderecht aufnahmen, theils endlich 
ausführliche Gem. Ordn. erließen. Befonders geschah das letztere seit dem J. 1830. 
Dabei verfolgte man im Süden und Westen das Prinzip, einheitliche Gem. Ordn. 
für Stadt und Land zu geben, während im Norden und Osten zunächst nur Städte- 
ordn. und erst später besondere Landgemeindeordn. ergingen.
	        
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