588 Kunstsehler.
Deutschland stellt in dieser Hinsicht die Aergte anderen Gewerbtreibenden gleich,
Oesterreich hat besondere Bestimmungen bezüglich der K.
Jene Gleichstellung ist unrichtig, denn während ein anderer Berufsmensch durch
Instruktionen in seinem Handeln bestimmt ist und es mit Maschinen und physi-
kalischen Verhältnissen, deren Gesetze erforscht sind, zu thun hat, giebt es keine fest-
stehenden Normen für den Arzt und sind menschlicher Orgauismus und biologische
Gesetze desselben nur theilweise erforscht.
Die Gleichstellung mit einer anderweitigen Körperverletzung ist insofern unstatt-
haft, als der Argt durch die Umstände des Falls zu einem Eingriff in den Organismus
gezwungen war.
Die Strafbarkeit eines K. ist zweifellos, und die Verfolgung muß von Staats-
wegen eintreten. Ebenso muß es Jedem, der sich von einem Arzt an seinem Leib
geschädigt glaubt, zustehen, civilrechtlich eine Klage auf Schadensersatz anhängig zu
machen.
Auders ist es mit der Konstatirung des Thatbestandes eines K. Sie ge-
hört zu den schwierigsten Aufgaben in toro.
Zum Thatbestand ist erforderlich: 1) Ein Verstoß gegen die Regeln der Kunst.
Abgesehen von Apothekern, die an Normen (Pharmakopöen) gebunden, zur Unter-
suchung von Droguen, abgesonderter Verwahrung von gewissen Stoffen verpflichtet
sind, von Hebammen, die kunstmäßig abgerichtet sind und positiven Vorschriften zu
folgen haben, ist beim Arzt, der in seinem praktisch-ärztlichen und wissenschaftlichen
Beruf keiner Kunstregel, keiner büreaukratischen Norm oder Instruktion unterworfen
sein kann, die Beurtheilung einer Kunstwidrigkeit seines Handelns oder Unterlassens
eine mißliche Sache.
Die Wissenschaft ist in steter Wandlung der Anschauungen, in regem Fort-
schritte begriffen und vermag keine Gesetze beim steten Wechsel ihrer Standpunkte
und der Verschiedenartigkeit der Einzelfälle, die ein ärztliches Eingreifen fordern,
aufzustellen. Gar manche Handlung, deren Unterlassung früher als K. vielfach be-
urtheilt und bestraft wurde (Unterlassung eines Aderlasses bei Lungenentzündung,
einer Trepanation bei gewissen Kopfverletzungen) wird heutzutage als kunstwidriger
Eingriff angesehen, wenn auch gerade nicht als K. bestraft.
Man kann das Heilverfahren eines Arztes nicht an Vorschriften binden, wie
z. B. den Richter an die Gerichtsordnung und ihm einen Vorwurf daraus machen,
wenn er seine eigenen Wege geht.
Casper's Anschauung, das Wesen eines K. liege in der Abweichung von
dem, „was in Lehren und Schriften der wissenschaftlich anerkannten Zeitgenossen als
Kunstregel für einen solchen oder ähnlichen Fall vorgeschrieben und durch die ärztliche
Erfahrung der zeitgenossen als richtig anerkannt ist“, hat nirgends Anerkennung
gefunden, da es wol herrschende Schulen, nicht aber allgemeine Gesetze im Gebiet
der praktischen Heilkunst giebt, die per majora dekretirbar wären, und ein solcher
Grundsatz den Arzt zum Handwerker degradiren und auf den Fortschritt der Heil-
kunst verzichten hieße. Wie wäre die Heilkunst zur segensreichen Exstirpation von
Nieren, erkrankten Eierstöcken, Gebärmüttern, zur Resektion erkrankter Gelenke ge-
kommen, wenn sie nach Casper's Anschauungen gehandelt hätte! Die Wissenschaft
ist jedoch nicht prinzipienlos. Sie besitzt allgemeine Grundsätze, die aus der Anatomie
und Physiologie des Organismus, aus der empirischen Erkenntniß des pathologischen
Prozesses der Krankheit fließen. Ein Verstoß gegen jene kann vor dem Forum der
Wissenschaft nachweisbar und zurechenbar sein, aber etwas Anderes ist es mit einer
Verantwortlichkeit vor dem Kriminalforum! Denn wenn auch allgemeine Grundsätze
für Diagnostik und Therapie bestehen, so ist doch jeder Fall wieder ein konkreter,
individueller, besteht die höchste Kunst des Arztes gerade darin, zu individualisiren,
und sind die Mittel und Wege, durch welche der Verlauf eines Leidens heilkünstlerisch
beeinflußt werden kann, verschiedenartige.