Full text: Rechtslexikon. Zweiter Band. Gad - Otto. (2.2)

Gemeindebürgerrecht, Gemeindeverfassung. 57 
tionen!) abzutheilen“. Andererseits jedoch hat die historische Entwicklung mit dem 
G. vielfach Befugnisse verknüpft, welche nach heutiger Auffassung Ausflüsse der 
staatsbürgerlichen Freiheit als solcher sind und deshalb unabhängig von jeder Ge— 
meindeangehörigkeit auf jedem Theile des Staatsgebietes nach Maßgabe der allge— 
meinen Staatsgesetze geübt werden können. Die begriffliche und thatsächliche Lösung 
solcher staatsbürgerlichen Befugnisse von der Gemeindemitgliedschaft war in den 
meisten Deutschen Gemeindeordnungen unseres Jahrhunderts nur unvollkommen durch- 
geführt. Insbesondere hingen das Wohnrecht, das Recht auf Armenunterstützung, 
das Verehelichungsrecht, sowie vielfach auch das Recht des Gewerbebetriebes und das 
Recht des Grundbesitzerwerbes in einem Gemeindegebiet vom vorgängigen Erwerbe 
der Gemeindemitgliedschaft ab (System des Heimathsrechts). Dagegen hatte die 
Preußische Gesetzgebung in konsequenter Entwicklung alle diese Befugnisse von der 
Gemeinde unabhängig gestellt (System der Freizügigkeit und des Unterstützungs- 
wohnsitzes). Durch die Reichsgesetzgebung sind die Prinzipien des Preuß. R. auf 
ganz Deutschland ausgedehnt worden, und es ist damit eine vollkommene Umgestal- 
tung der Grundsätze über Gemeindemitgliedschaft eingetreten. Jetzt hat im Deutschen 
Reich jeder Reichsangehörige das Recht, auf jedem Theile des Reichsgebiets unab- 
hängig von dem Erwerb der Gemeindemitgliedschaft sich aufzuhalten und einen 
Wohnsitz zu begründen (Freizügigkeitsgesetz vom 1. Nov. 1867), Grundeigenthum 
zu erwerben (ebenda), sich zu verehelichen (Ref. über die Aushebung der polizeilichen 
Beschränkungen der Eheschließung vom 4. Mai 1868), ein Gewerbe zu treiben 
(Rew. O. vom 21. Juni 1869), sowie durch zweijährigen ununterbrochenen Aufenthalt 
einen Anspruch auf Armenunterstützung gegen den Ortsarmenverband zu erlangen 
(NGes. über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870). Nur in Bayern ist 
das Verehelichungsrecht und das Armenrecht mit der Gemeindeangehörigkeit ver- 
knüpft geblieben. Obschon nun aber so staatsbürgerliche und gemeindebürgerliche 
Befugnisse von einander getrennt sind, bleibt der Gemeindeverband Basis und Glied 
des Staatsverbandes, und die Gemeinde kann daher keineswegs willkürlich über Er- 
werb, Verlust und Inhalt ihrer Mitgliedschaft entscheiden. Sie ist vielmehr an die 
allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen darüber gebunden. Nach diesen muß zunächst 
jeder Staatsbürger, soweit nicht Spezialausnahmen (z. B. für Standesherren, Guts- 
besitzer und Gutsangehörige) begründet sind, einer Gemeinde angehören. Im Uebrigen 
bestehen sehr verschiedene Systeme, wobei der Nachdruck bald mehr auf die einzelnen 
in der Gemeindeangehörigkeit enthaltenen Rechte und Pflichten, die bei dem Vor- 
handensein gewisser Voraussetzungen von selbst entstehen, bald mehr auf die Natur 
der Gemeinde als eines korporativen Verbandes, in den man nur durch Geburt oder 
Aufnahme treten kann, gelegt wird. Ueberall zerfallen dabei die Gemeindemitglieder 
in zwei Hauptklassen, deren Verhältniß als „Gemeindeangehörigkeit“ und „Ge- 
meindebürgerrecht“ unterschieden wird und sich im Allgemeinen als passive und 
aktive Mitgliedschaft charakterisiren läßt. 
1) Die Gemeindeangehörigkeit erscheint nach den neueren Gemeinde- 
gesetzen, welche hierin sich dem Preußischen Vorbilde angeschlossen haben, als die 
von Rechtswegen eintretende Folge des Wohnsitzes im Gemeindegebiet, wird daher 
in Gemäßheit des Freizügigkeitsgesetzes ohne selbständiges Zuthun der Gemeinde er- 
worben und verloren. Einzugsgelder oder sonstige Abgaben dürfen wegen der bloßen 
Niederlassung in einer Gemeinde nirgend in Deutschland mehr erhoben werden. Der 
Inhalt der Gemeindeangehörigkeit aber besteht lediglich in dem Anspruch auf Mit- 
benutzung der Gemeindeanstalten, dem die nach dreimonatlichem Aufenthalt ein- 
tretende Verpflichtung zur Mittragung der Gemeindelasten entspricht. 
Nur in geringerem Umfange besteht neben der durch den Wohnsitz bewirkten 
Verknüpfung mit der Gemeinde noch das System der älteren außerpreußischen Ge- 
meindegesetzgebung, nach welcher die Gemeindeangehörigkeit als ein besonderes kor- 
poratives Recht lediglich durch Geburt (resp. Verheirathung) oder Aufnahme ent-
	        
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