100 Postliminium.
Feind auch die rechtliche Möglichkeit hierzu verloren, da der Krieg nach heutigem
Völkerrechte nur zwischen Staaten geführt werden kann, also durch die Vernichtung
des einen der kriegführenden Staaten, bzw. durch die Entthronung des Staats-
herrschers unmöglich wird. In diesem Falle ist demnach, sofern das Volk sich nicht
zu Gunsten des vernichteten Staates oder des vertriebenen Sonveräns erhebt, der
feindliche oder der revolutionäre Machthaber in den vollständigen Besitz der Herr-
schaft gelangt. Das Recht des depossedirten Souveräns verliert damit jede staats-
und völkerrechtliche Bedeutung: es giebt weder in noch außer dem Staate ein
Forum, vor welchem es geltend gemacht werden könnte, und auch das Recht, durch
kriegerische Gewalt die Restauration zu erzwingen, ist dem depossedirten Fürsten mit
dem Verluste der Staatsgewalt verloren gegangen. Fremde Staaten können dem
Usurpator wol sein Recht absprechen; aber einem solchen Urtheile fehlt jede recht-
liche Kraft, und ebensowenig kann die Meinung des ganzen Volks oder einzelner
Parteien in demselben, daß der Usurpator kein Recht auf die Herrschaft habe, der
zweifellosen Thatsache des Besitzes der Staatsgewalt gegenüber irgend welche recht-
liche Wirkung äußern.
Die staatliche Ordnung lebt also nur durch den Usurpator fort und kann nur
durch ihn fortleben, weil ihre Erhaltung die in den Händen des Usurpators befindliche
Staatsgewalt zur Voraussetzung hat: der Besitz der Staatsgewalt giebt sonach dem
Usurpator nicht blos die Macht, sondern auch das Recht zu herrschen. Damit ist
aber auch alles dasjenige, was der Usurpator im Einklange mit den unter seiner
Herrschaft geltenden Rechtsnormen gethan hat, für rechtmäßig erklärt. Eben deshalb
kann, wenn die durch Eroberung oder Revolution begründete Herrschaft von dem
vertriebenen Staatsherrscher oder zu dessen Gunsten von einer befreundeten Macht
wieder umgestoßen wird, nicht von einem P. der ursprünglichen, jetzt restaurirten
Regierung gesprochen werden: da das jus postliminül auf Grund der thatsächlichen
Rückkehr des ursprünglich Berechtigten annimmt, derselbe sei überhaupt nie fort
gewesen, so würde das P. die Befeitigung des ganzen von dem Usurpator ge-
schaffenen Rechtszustandes, die Annullirung sämmtlicher durch ihn begründeter
Rechtsverhältnisse fordern. Hier aber findet gerade das Gegentheil statt: ein be-
stimmtes Rechtsverhältniß wird unter Anerkennung, daß dasselbe eine Zeit lang und
zwar mit fortdauernden rechtlichen Wirkungen unterbrochen gewesen, erneuert, die
Zeit der Usurpation wird nicht rückwärts ungeschehen gemacht, sondern die in ihr
ergangenen Verfügungen und begründeten Rechtsverhältnisse bleiben bestehen, und
dem restaurirten Herrscher steht nur zu, diejenigen rechtlichen Bestimmungen, welche
den Usurpator in seiner Stellung als Souverän anerkennen und sichern, einfach als
ipso jure nichtig zu betrachten, weil ohne deren Annullirung eine Restauration
überhaupt nicht möglich sein würde. Daß dem restaurirten Herrscher hierbei eine
Berufung auf sein früheres weder durch eine Willenshandlung des Volks noch durch
die Anerkennung des Usurpators von Seiten des Auslandes entziehbares Recht zusteht,
während der Usurpator sich bei der Beseitigung des rechtmäßigen Souveräns nur
auf die Thatsache des gleichviel durch welche Faktoren erworbenen Besitzes der
Staatsgewalt berufen konnte, ändert zwar das juristische, wie das moralische Urtheil
über diesen Vorgang, macht aber aus ihm doch nicht ein wirkliches, die Zwischenzeit
der Usurpation beseitigendes P., sondern nur eine staatsrechtliche Neu-
bildung auf Grund eines früher geltend gewesenen, dann beseitigten und endlich
unter Anerkennung dieser zeitweisen Befeitigung durch die Besitzergreifung der Staats-
gewalt wieder zur Geltung gebrachten Rechts.
OQuellen: Gaius, I. § 129. — D. 49, 15 de captivis et de postliminio. — C. 8, 51
de postliminio reversis et redemtis. — Ueber die Reprisengesetzgebung der einzelnen Länder
vgl. Wheaton, Eléments du droit international, 3. éd., tome II. § 12. — Phillimore,
Comment. upon international law, vol. III. part. X. ch. 6 §§ 411—419.
Lit.: Hase, Das jus postliminit und die fictio legis Corneliae, Halle 1851. — Bech-
mann, Das jus postliminü und die lex Cornelia, Erl. 1872. — Wheaton, a. a. O., II.