Rechtsvermuthungen. 301
geschehene Einlegung seinerseits das R. nicht angewendet habe. Diese zwar un-
zweifelhaft berechtigte Erwägung dürfte dem Schweigen des Gesetzes gegenüber doch
nicht durchschlagend sein, umsoweniger, als die in § 340 erwähnten Personen in dem
Gebrauch der R. vollkommen selbständig sind. — Gegen seinen Willen kann das
von dem Beschuldigten eingelegte R. von einem Andern natürlich niemals zurück-
genommen werden. Der Vertheidiger bedarf dazu einer ausdrücklichen Vollmacht
(5 344 Abf. 2).
IV. So weit die angewendeten R. Suspensiveffekt haben, erstreckt sich derselbe
nur auf die Theile der Entscheidung (des Urtheilstenors), gegen welche sich der
Angriff richtete. Eine allgemeine Nachprüfung durch das Gericht der höheren Instanz
findet nicht statt, dasselbe bleibt vielmehr bezüglich der Ausdehnung seiner Thätig-
keit an die Parteienanträge, wenn auch nicht an deren Begründung, gebunden.
Ein Unterschied zwischen Revision und Berufung besteht in dieser Beziehung darin,
daß bei ersterer bestimmte Anträge unerläßlich sind (§ 348), bei letzterer eine solche
Spezialisirung nicht erfordert, vielmehr angenommen wird, daß eine auf bestimmte
Punkte nicht beschränkte und nicht näher begründete Berufung den ganzen Inhalt
des Urtheils anfechte (§ 359). Das ist im heutigen Straf Prz. um so eher zulässig,
als das Interesse des Staates durch die Staatsanwaltschaft wahrgenommen wird.
An diesem Verhältniß will auch § 343 nichts ändern, derselbe macht vielmehr nur
zu Gunsten des Beschuldigten eine Ausnahme von dem Satz, daß ein eingelegtes
N. nur eine Abänderung zu Gunsten des Einlegenden herbeiführen kann (vgl. den
Art. Reformatio in peius). Daß jedes von der Staatsanwaltschaft eingelegte
R. die Wirkung hat, daß die angefochtene Entscheidung auch zu Gunsten des Be-
schuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann, heißt nur die Sache ist in
zweiter Instanz geradeso zu behandeln, als wenn sich der Beschuldigte dem R. der
Staatsanwaltschaft angeschlossen hätte. Eine solche im früheren Recht zulässige An-
schlußerklärung kennt übrigens die StrasfP O. nicht, doch wäre die Abgabe einer solchen
innerhalb der gesetzlichen Frist wol als selbständige Ergreifung des R. zu behandeln.
(Vgl. Erk. des Reichsgerichtes vom 10. Februar 1880, Entsch. I. S. 196.)
Lit.: Walther, Die R. im Strafverfahren rc., 2. Abth., München 1853 und 1855;
dort vgl. auch die Angaben der älteren Lit. — Mittermaier, Die Geizebung“ u. Recht-
übung über Strafverfahren nach ihrer neuesten Fortbildung, 1856, Planck,
Systematische Darstellung des Deutschen Strafverfahrens, S. 499 ff. — Za aslie- Handbuch
dern Deutschen StrafPrz., II. S. 570 ff. — Ortloff im Gerichtssaal 1871 184 ff.,
fe — „Dochon, Witafy. 7 Aufl., S. 289 ff. — John, Das Deutsche easlssae.
— 0 ff. — Schwarze in v. Holtzendorff' 3 Handbuch des Deutschen Straf-
kuaies II. S. 211 ff. — Geyer, Lehrbuch des gemeinen Deutschen Strafprozeßrechtes
S. 783 ff. — v. Kries, Die R. des Civ. Prz. und des Strasprez., 1860. — Die Kommentare
#ur Selee. von Vomhard u. Koller, S. 2# ff.; Dalcke, 207 f Keller,
371 fe Löwe (2. Aufl.), S. 599 ff Puchelt, S 527 ff.; v. — . 469 ff.;
A— .394 ff., Voitus, S. 346 v. Lilienthal.
Rechtsvermuthungen. „Etwas vermuthen“ heißt im Allgemeinen: es als
Thatsache annehmen, voraussetzen — ohne vollkommenen Beweis. Ob
die angenommene Thatsache eine äußere oder innerliche (psychologische) ist, ob eine
vergangene gegenwärtige oder zukünftige, ob Zustand, Verhältniß oder Er-
eigniß, ist für den Begriff der Vermuthung an sich gleichgültig. Die Ausdrücke
„praesumere“, „praesumtio“ sind noch ungleich vieldeutiger; sie schließen auch ziemlich
abwegige Begriffe, wie „anmaßen“", „Anmaßung“, „vorher thun“, „vorher ge-
brauchen“ u. a. in sich. In dem Sinne jedoch, in welchem sie in den Deutschen
Sprachgebrauch übergegangen sind, — und nur in diesem haben die beiden Worte
für die heutige Jurisprudenz technische Bedeutung — besagen sie durchaus dasselbe,
wie nach dem Vorbemerkten „vermuthen“ und „Vermuthung“.
Dies vorausgeschickt erklärt sich zunächst die bekannte Eintheilung der Präsum-
tionen in praes. hominis s. facti (einfache richterliche oder faktische Vermuthungen)
und praes. juris (R.) ohne Schwierigkeit.