Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

302 Rechtsvermuthungen. 
Faktische Vermuthungen sind alle Annahmen, Voraussetzungen von 
Thatsachen, zu denen ein denkender Mensch trotz Mangel vollkommenen Be- 
weises — durch die Erfahrung veranlaßt wird. Hieraus folgt unmittelbar 
ein Doppeltes für die Beantwortung der Frage, welche Rolle den faktischen Ver- 
muthungen im Prozeß zukommt. Erstens kann eine praes. facti niemals Platz 
greifen, wo es an jeder Beweisführung fehlt, sondern immer nur als Resultat eines 
unvollständig erbrachten Beweises. Zweitens kann sie nur in Betracht kommen, 
wo und soweit dem Richter eine Beurtheilung der vorgebrachten Beweise vom 
Standpunkte der Erfahrung aus überhaupt freisteht. Am umfassendsten ist demnach 
ihre Bedeutung, wo das Prinzip der freien Beweiswürdigung volle 
Durchführung gefunden. Aber auch hier fehlte es bis jetzt an einer besonderen 
juristischen Theorie der (faktischen) Vermuthungen. Und infofern mit Recht, als 
hier die Lehre von den faktischen Vermuthungen mit der Lehre vom Beweise über- 
haupt zusammenfällt, da auch der strikteste Zeugen= oder Urkundenbeweis im Sinne 
der Logik nur eine dringende Vermuthung begründet. Mit Unrecht dagegen, sofern 
man meint, über faktische Vermuthungen sei überhaupt nichts Allgemeines zu sagen. 
Einerseits bietet die angewandte Logik, die wissenschaftliche Lehre vom Beweise und 
von den Methoden zahlreiche allgemeinere Gesichtspunkte, wie in vernünftiger Weise 
Vermuthungen aufzustellen sind. Andererseits steckt schon in den rechtlich bindenden 
Beweisregeln des bisherigen Gemeinen Prozeßrechts zugleich eine umfangreiche 
Theorie der für den Prozeßbeweis wichtigen faktischen Vermuthungen, die 
im Großen und Ganzen auch unter der Herrschaft des Prinzips der freien Beweis- 
würdigung allgemeines Ansehen genießt und verdient; nur ist dabei nicht sowol an 
die Beweisregeln selbst (z. B. den Satz, daß die übereinstimmende Aussage zweier 
klassischer Zeugen vollen Beweis begründe), als vielmehr an die logischen Erwägungen 
zu denken, auf welche mehr oder weniger bewußt jene Regeln zurückweisen. 
Beruht die Bedeutung der „faktischen Vermuthungen“ allein auf der Erfahrung, 
so gründet sich die der R. als solcher, wie schon der Name andeutet, ausschließlich 
auf das Recht selbst. Entsprechend der oben gegebenen Definition der faktischen 
Vermuthung ist demnach die R. zuvörderst zu definiren als Annahme (Voraus- 
setzung) von Thatsachen, zu welcher Jemand trotz Mangel vollkommener Be- 
weise durch das Recht veranlaßt, d. i. verpflichtet wird, gleichviel ob dieselbe 
ohnehin durch die Erfahrung angezeigt ist oder nicht. Durch diese Fassung ist 
unmittelbar zweierlei ausgeschlossen. Einmal die Subsumirung der Fiktionen unter 
den Begriff der Präsumtion; sie sind zwar auch Annahmen von Thatsachen, zu denen 
das Recht nöthigt, aber nicht blos trotz Mangel ausreichender Beweise, sondern 
trotz dem Bewußtsein von dem Nichtvorhandensein oder doch Nichtso vorhanden- 
sein der angenommenen Thatsachen. Sodann aber auch alle Annahmen von That- 
sachen, die nur für den Gesetzgeber Anlaß, Motiv zur Aufstellung von Rechts- 
vorschriften gewesen sind, ohne zugleich diejenigen, an welche sich die betreffenden 
Rechtsvorschriften richten, zu einer Erneuerung jener Annahme zu veranlassen. Rechts- 
vorschriften der letzteren Art sind z. B. die Satzungen des Römischen Kaiserrechts, 
daß das Gelddarlehn des Soldaten, auch wenn er äliuskamilias ist, klagbar sein 
soll, — daß die mater binuba Schenkungen an ihre Kinder erster Ehe nicht propter 
ingratitudinem soll revoziren können; die Vermuthungen, von denen hier der Ge- 
setzgeber ausgegangen, daß der slliusfamilias miles die Schuld nur zu castrensischen 
Zwecken kontrahiren werde, und daß ein Widerruf der mater binuba nicht sowol in 
der Undankbarkeit der Kinder erster Ehe, als in der von ihr selbst eingegangenen 
Ehe seinen Grund habe, sind für die praktische Anwendung, wie für die systematische 
Darstellung des Rechts völlig irrelevant. 
Unter den letzterwähnten Gesichtspunkt fällt auch Vieles, was man bisher 
öfters unter den Begriff einer sog. praesumtio juris et de jure gestellt hat, und 
ist diese Erkenntniß sowol, als die von anderer Seite beliebte Vermischung mit dem
	        
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