Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

304 Rechtsvermuthungen. 
gesetzliche Vorschrift fordert, die letztere mithin nur bestätigt, was schon kraft 
allgemein geübter Rechtsanschauung, oder mit anderen Worten kraft Gewohn- 
heitsrechtes für uns gelten würde: und eben darum kommt dieser Annahme gerade 
die Bedeutung einer Rechts vermuthung zu, und zwar, da sie eine unbedingte (mit 
Ausschluß des Gegenbeweises, auch wo derselbe thatsächlich möglich wäre) sein soll, 
einer praesumtio juris et de jure. 
Der Begriff der gewöhnlichen R., der praesumtio juris tantum, ist durch 
die vorhergehenden Bemerkungen in zwiefacher Richtung bestimmt: den faktischen Ver- 
muthungen gegenüber als eine Annahme (Voraussetzung) von Thatsachen, zu der 
Jemand — im Prozeß insbesondere der Richter — durch das Recht selbst ge- 
nöthigt, also juristisch verpflichtet wird, ohne Rücksicht darauf, ob in concreto zu 
solcher Annahme Erfahrungsgründe vorliegen oder nicht; der praesumtio juris et de 
Jure, als einer besonderen Abart der R. gegenüber durch die stets nur bedingte 
Wirksamkeit, sofern solche durch den Beweis des Gegentheils ausgeschlossen, 
resp. aufgehoben wird. Der letztere Unterschied reicht tiefer hinab, als es bei der 
oberflächlichen Betrachtung scheint. Er weist hin auf eine Grundverschiedenheit des 
Zweckes: die praesumtio juris et de jure soll dem Rechte selbst dienen, und 
zwar — wie schon bemerkt — in allgemeinster Weise als ein Hülfsmittel der Systematik, 
zur Erleichterung der Auffassung und Darstellung des Rechts; die einfache praesumtio 
juris soll in erster Linie immer einem und demselben praktischen Zwecke dienen, der 
Erleichterung des Beweises im einzelnen konkreten Falle. Daß daneben noch 
gewissen Forderungen des Rechtsgefühls, resp. gewissen herrschenden, sittlichen und 
ästhetischen Anschauungen, Rechnung getragen werden soll, kommt bei beiden Arten 
von R. vor, übrigens hier, wie dort, nur bei einzelnen, nicht bei allen. 
Man hat wiederholt Versuche gemacht, den Begriff der gewöhnlichen R. noch enger 
zu umgrenzen, jedoch ohne rechten Erfolg, soviel Gutes dabei auch über die einzelnen 
Arten von R. gesagt ist. Die Doktrin hat allerdings nicht selten mit dem Begriff der 
praesumtio juris argen Mißbrauch getrieben, und sie konnte dies um so eher, als die 
Römischen und Kanonischen Rechtsquellen in der Verwendung der Ausdrücke „prae- 
sumere“ und „praesumtio“ im Allgemeinen keinen festen Sprachgebrauch aufweisen, 
wie denn auch die älteste Klassifizirung der Präsumtionen erst der Glossatorenzeit 
angehört. Zu jenem Mißbrauch des Präsumtionsbegriffes gehört insbesondere die 
Aufstellung der ganz generellen Präsumtionen zu Gunsten des Beklagten, des Be- 
sitzers u. s. w., wie sie sich nur erklärt aus einer Verkehrung des richtigen Satzes, 
daß jede R. den Beweis einer gewissen Thatsache unnöthig macht, in den ebenso 
gewiß unrichtigen, daß überall, wo kein Beweis für eine Thatsache gefordert wird, 
eine R. vorliege. Wenn der Kläger nicht beweist, was er beweisen müßte, wenn 
ihm Staatshülfe (zunächst in Gestalt des Urtheils, dann in der Vollstreckung 
desselben) zu Theil werden soll, so ist er freilich mit seiner Klagforderung abzuweisen, 
resp. Beklagter von derselben freizusprechen, aber nicht auf Grund irgend welcher 
Annahme von Thatsachen zu Gunsten des Letzteren, sondern einfach, weil die gesetz- 
lichen Bedingungen für die Gewährung der Staatshülfe oder mit anderen Worten 
für ein verurtheilendes Erkenntniß seitens des Klägers nicht erfüllt sind. Auf der 
anderen Seite geht man aber ebenfalls zu weit, wenn man allen Regeln über 
die Beweislast, sowie allen Rechtssätzen, die sich als einfache Schluß- 
folgerungen aus Dispositivnormen ergeben, ein für allemal die Bedeutung 
von (einfachen) R. absprechen will. Rein an sich, ihrem unmittelbaren Inhalte nach, 
sind allerdings beide Arten von Rechtsregeln keine R. Und darin liegt allein schon 
Grund genug, sie von anderen R., die ausschließlich als solche zu denken sind, zu 
unterscheiden. In einer bestimmten Weise verwandt, namentlich als Grundlage des 
konkreten richterlichen Urtheils, erscheinen sie dennoch — wenn nicht alle, so doch 
zum größten Theile — als R.
	        
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