Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Rechtsvermuthungen. 305 
Offenbar kann es für ein dem Klagpetitum entsprechendes Urtheil nur zwei 
zureichende Gründe geben: entweder die Annahme, daß das Klagpetitum dem wirk- 
lichen materiellen Recht des Klägers entspricht, oder ein Versäumniß, also eine Art 
Unrechthandeln seitens des Beklagten, für welches ihn die Urtheilsfällung nach dem 
Klagpetitum, ohne Rücksicht darauf ob es begründet ist oder nicht, als Strafe 
trifft. Inwieweit der eine oder der andere der beiden Gründe Platz greift, ist 
natürlich nach jedem positiven Rechte besonders zu beantworten, und kann diese 
Antwort auch nach einem bestimmten Rechte mitunter recht zweifelhaft sein, wie 
dies insbesondere auch von dem älteren Gemeinen und unserem heutigen Deutschen 
Prozeßrechte gilt. Unbestritten jedoch behauptet in den letztgedachten Rechten der 
erstere der beiden Gründe, wenn nicht den ganzen, so doch weitaus den vordersten 
Platz. Bezeichnend hierfür ist namentlich die Thatsache, daß selbst da, wo man die 
Unterlassung der Beweisführung seitens des Beklagten als Unrecht, als „Ungehorsam“ 
auffaßt, die Strafe durch eine Fiktion — als poena confessi et convicti — auf 
den ersten der beiden Gründe gleichsam reduzirt wird. Sicherlich ist es dann viel 
einfacher, an die Unterlassung des Beweises seitens des Beklagten eine R. für das 
Begründetsein der das Klagpetitum rechtfertigenden Thatsachen zu knüpfen. Hält 
man indessen diesen einfachen Weg für unverträglich mit den Intentionen der hier 
in Frage kommenden Prozeßgesetze selbst — wofür sich ja mancherlei sagen läßt —, 
so ist doch unter allen Umständen unter den zweiten Grund der Fall nicht 
zu bringen, wo dem Beklagten der versuchte Beweis mißglückt ist; und eben darum 
nehmen für diesen Fall alle Regeln, durch welche dem Kläger ein Stück Be- 
weislast abgenommen wird, nothwendig die Gestalt von R. an. Denn so gewiß 
das Mißglücken des Beweises, daß der Kläger, der eine Ersitzung behauptet, 
mala üüde besessen habe, oder daß ein vom Kläger eingefordertes Darlehn zurück- 
gezahlt sei u. s. w., nimmermehr als Beweis für die bona fides des Klägers oder 
für das Nichtzurückgezahltsein gelten kann, so gewiß wird der Richter durch die Be- 
weislastregeln zugleich verpflichtet, in solchem Falle bona fides, resp. Nichtzurück- 
gezahltsein vorauszusetzen, und diese Voraussetzung dem Urtheilsbefehle zu Grunde 
zu legen. Und wenn man auch hiergegen etwa behaupten sollte, der Beweis des 
Nichtgezahltseins des Darlehns und resp. der bona üfides bei der Ersitzung sei schon 
darum überflüssig, weil das, „was einmal rechtlich existire“, ja „was nur 
äußerlich ohne Mangel existire“, „die Berechtigung seiner Existenz in sich trage, 
bis diese Existenz vernichtet werde“, so läge hierin — ganz abgesehen von der sehr 
fraglichen Richtigkeit dieser Behauptung an sich — eine Verwechselung der Existenz 
selbst mit dem Beweife der Existenz. Daraus, daß etwas existirt, und zwar 
so lange existirt, bis es in seiner Existenz vernichtet wird, folgt sicherlich nicht, 
daß es so lange existirt, bis die Vernichtung der Existenz bewiesen wird; 
fordert also das Recht, daß die Existenz dennoch bis zum Beweis der Vernichtung, 
resp. des Mangels angenommen wird, so ist dies eben nichts anderes, als eine R. 
und an dem Bestreben, solchen „Beweislastpräsumtionen“ den Titel „R.“ abzu- 
sprechen, ist nur so viel richtig, daß dieselben als eine besondere Gruppe begriffen 
und aus Gründen, die hier nicht näher erörtert werden können, auch spystematisch, 
oder, bestimmter gesagt, im Systeme eines Prozeß- oder Beweisrechts in selbständiger 
Weise behandelt werden müssen. 
Aehnliches — wenigstens im Resultat Aehnliches — ist zu sagen von den 
oben gleichfalls schon berührten „Rechtsinhaltspräsumtionen“, wie sie Burckhard 
genannt hat. Es ist ja gewiß richtig, daß Rechtssätze, wie z. B. die sog. prae- 
sumtio Muciana, die Regel, daß Pertinenzen präsumtiv als mitverkauft gelten, u. f. w. 
gar nichts anderes sind, als Schlußfolgerungen aus gewissen allgemeinen Rechts- 
grundsätzen oder Rechtsbegriffen, und daß ihnen darum im Rechtssysteme eine 
Stelle unmittelbar bei den letzteren und nur da gebührt. Allein ebenso gewiß 
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 20
	        
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