Reichsland. 403
J. Geschichtliche Entwickelung der Verfassung des R.
1) Die Verwaltung des Generalgouvernements (vom 14. August
1870 bis zum 28. Juni 1871, dem Tage der Rechtskraft des Gesetzes vom 9. Juni
1871) ist lediglich die einer militärischen Diktatur; so rastlos auch die Thätigkeit
derselben war (vgl. Amtliche Nachrichten für Elsaß-Lothringen, Bekanntmachungen
des Generalgouverneurs 2c., Straßburg 1879), um die einzelnen Zweige der Ver-
waltung nach Deutschem Muster zu gestalten, so wenig war sie geeignet und Willens,
die staatlichen Verhältnisse des Landes zu konsolidiren.
2) Die kaiserliche Diktatur (vom 28. Juni 1871 bis zum 1. Januar
1874). Indem das Vereinigungsgesetz dem Kaiser die Ausübung der Souveränetät
delegirte, wurde gleichzeitig bestimmt, daß bis zur Einführung der NVerf. die Ge-
setzqebung dem Kaiser in Gemeinschaft mit dem Bundesrath zustehen sollte. Dem
Reichstage war nur die Genehmigung von Anlehen oder von Garantieübernahmen
für das R. zu Lasten des Reichs vorbehalten, auch sollte ihm ein jährlicher Rechen-
schaftsbericht gegeben werden. In dieser Periode beginnt man, die Verwaltung des
R. von der des Reiches selbständig zu gestalten, wenn sie auch durch Organe des
Reiches ausgeübt wird. Im Bundesrath wird ein besonderer Ausschuß für Elsaß-
Lothringen gebildet; verantwortlicher Minister ist der Reichskanzler, der für die Ver-
waltung des R. eine besondere Abtheilung im Reichskanzleramt einrichtet; ein be-
sonderes gesetzliches Publikationsorgan (G. Bl. für Elsaß-Lothringen) wird gegründet.
Die Organisation der Gerichte erfolgte durch das Gesetz vom 14. Juli 1871, wobei das
RO-P. an die Stelle des Französischen Kassationshofes trat, und Kriegsgerichten
(letzte Organisation: Ges. vom 12. Juli 1873) die Aburtheilung der schwereren po-
litischen Verbrechen überwiesen wurde. Endlich wird die Ablösung der verkäuflichen
Stellen im Justizdienst ins Werk gesetzt (Ges. vom 10. Juni 1872). Die Orga-
nisation der Verwaltungsbehörden war der Inhalt des Ges. vom 30. Dez. 1871,
welches zu den Grundlagen der Französischen Verwaltung, wie sie namentlich durch
das Ges. vom 28 pluviose VIII. geschaffen waren, als oberste Verwaltungsbehörde
im Lande den Oberpräsidenten hinzufügte. Ihm ist besonders durch § 10 des Ges.
die Befugniß beigelegt, alle erforderlichen Maßregeln bei Gefahr für die öffentliche
Sicherheit zu treffen und namentlich die Rechte auszuüben, welche das Franz. Ges.
vom 9. August 1849 der Militärbehörde für den Fall des Belagerungszustandes
zuweist. Außerdem wurden dem Oberpräsidenten vielfache Ermächtigungen ertheilt,
welche nach Französischen Gesetzen den Ministern zustanden, wie andererseits auf den
Reichskanzler Befugnisse übergingen, welche das Französische Gesetz dem Staatsober=
haupt zuwies (z. B. die Ertheilung von Ehedispensen durch Ges. vom 25. Februar
1872). Die Funktionen des Französischen Staatsraths wurden, soweit es sich um
recours comme d'abus handelte, dem Bundesrath, soweit die oberste Verwaltungs-
jurisdiktion in Frage kommt, einem aus Räthen des Oberpräsidium gebildeten „kaiser-
lichen Rath in Elsaß-Lothringen“ übertragen (Erlasse vom 1. Sept. 1872 und
22. Febr. 1873). Ueberall machte sich ein Streben nach Dezentralisation geltend,
und so wurde auch den an die Stelle der sous-prélets getretenen Kreisdirektoren
und den für die Präfekten substituirten Bezirkspräsidenten eine weiterreichende Amts-
thätigkeit beigelegt. Von demselben Geiste ist das Gesetz vom 30. Dezember 1871
über die Einrichtung der Forstverwaltung beseelt; das Gesetz vom 16. Dez. 1873
regelte die Bergverwaltung im Sinne des Preußischen Berggesetzes vom 24. Juni
1865. Während so die innere Organisation des Landes vollzogen wurde, gleich als
ob es sich um einen selbständigen Staat handelte, wurde das R. andererseits auch
allmählich einzelnen Bestimmungen der RVerf. zugänglich gemacht. Schon das
Vereinigungsgesetz hatte Art. 3 der RVerf. eingeführt und bestimmt, daß mit dem
1. Januar 1873 (durch Ges. vom 20. Juni 1872 [R. G. Bl. S. 208] auf
den 1. Januar 1874 erstreckt) die Verfassung in Elsaß-Lothringen Geltung haben
sollte und schon vor diesem Zeitraume von dem Kaiser mit Zustimmung des Bundes-
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