Reservatrechte. 451
Abs. 2 zulässigen Einspruch des „berechtigten“, also eines jeden Bundesgliedes ver-
hindert werden könnte.
Diese Meinung entbehrt in ihrem negativen Theile durchaus aller Begründung,
wie sich aus den Reichstagsverhandlungen über die Materie und überhaupt aus der
ganzen Struktur des Reiches ergiebt. Die um den Abs. 1 von Art. 79 f. 3.
geführten prinzipiellen Kämpfe im konstituirenden Norddeutschen Reichstag beweisen
genügend, daß es unzulässig ist, den Abs. 1 nunmehr vermittelst des erst im Jahre
1870 in die Verfassung aufgenommenen Abs. 2 gegenstandslos zu machen. Nach
ihrer positiven Seite aber, entbehrt diese Meinung gleichfalls der Begründung, da
der zu interpretirende Satz nicht von „Vorschriften — — der einzelnen“, sondern
nur von „Vorschriften — — einzelner Bundesglieder“ spricht. —
Eine zweite Meinung verzichtet auf einen prinzipiellen Gesichtspunkt für Fest-
stellung jener „Vorschriften“, umgrenzt den Begriff vielmehr nur durch positive
Spezialisirung. (Den Versuch, diese Spezialisirung in die Verfassung selbst aufzu-
nehmen, machte im Reichstag — leider vergeblich — der Abg. Prof. Hänel). Ein-
verstanden sind die zu dieser Gruppe gehörigen Schriftsteller (Gänel, Löning,
Meyer, v. Martitz) darin, daß die den einzelnen Bundesgliedern nach Feststellung
der Reichskompetenz generell verbliebenen Rechte nicht zu den „Vorschriften“ im
Sinne von RVerf. Art. 792 gehören. Welche Rechte aber positiv unter jenen Be-
griff fallen, wird verschieden bestimmt: so werden die Präsidialrechte von einigen
darunter subsumirt (Löning), von anderen nicht, ebenso die Vorrechte einzelner
Bundesglieder im Bundesrath (Hänel, Löning), die Stimmrechte aller Bundes-
glieder im Bundesrath (Löning). —
Eine dritte Meinung (Meyer, Zorn)g findet den prinzipiellen Gesichtspunkt für
Feststellung der „Vorschriften“ darin, daß Abs. 2 des Art. 79 eine Ausnahme
von der ordentlichen Reichsorganisation statuiren wolle, was sich aus seinem Sinn
an sich, seiner historischen Genesis, seinem Verhältniß zur Merf. Art. 79, Abs. 1,
sowie aus den Verhandlungen des Reichstages ergebe. Nach dieser Meinung ist
demnach begrifflich Alles aus jener Bestimmung auszuscheiden, was zur ordent-
lichen Organisation des Reiches gehört, auch wenn dies den Charakter von Vor-
rechten für einzelne Bundesglieder trägt, so die Präsidialrechte Preußens, die Vor-
rechte einzelner Bundesglieder im Bundesrath, ebenso aber auch die Stimmrechte
aller Bundesglieder im Bundesrath. Die „Vorschriften“, welche die NVerf.
Art. 792 im Sinne hat, tragen danach rein den Charakter von Ausnahms-
rechten gegenüber der ordentlichen Reichsorganisation, von staats-
rechtlichen Privilegien gegenüber dem Gemeinen Reichsrecht.
Diese Ausnahmerechte sind, nach den berechtigten Staaten geordnet:
1. Die Exemtion der Stadt Hamburg „mit einem dem Zweck entsprechen-
den Bezirke ihres oder des umliegenden Gebietes“ von der Zollgesetzgebung des
Reiches (RVerf. Art. 34); soweit der Freihafenbezirk nicht „Stadt“-gebiet von
Hamburg betrifft, ist derselbe durch Verordnung des Bundesrathes abzugrenzen.
2. Das sub 1 spezialisirte Recht gilt ebenso für Bremen (MVerf. Art. 34).
3. Die Exemtion Oldenburgs vom Maximalsatze der Chausseegelder (Zoll-
vereins-Vertt. vom 8. Juli 1867, Art. 22 verb. mit RVerf. Art. 40).
4. Die Exemtion Badens von den Reichsgesetzen über die Besteuerung des
Bieres und Branntweins (RVerf. Art. 352).
5. Die gleiche Exemtion wie Baden hat auch Württemberg (Verf.
Art. 352). Dieser Staat ist ferner nach näherer Maßgabe von RVerf. Art. 52 eximirt
von der Reichsgesetzgebung über Post= und Telegraphenwesen, soweit sie nach der NVerf.
Art. 48—51 zu üben ist (vgl. dazu noch Württ. Schlußprot. Z. 2); Württemberg ist
ferner nach Maßgabe von RVerf. Art. 452 verb. mit Schlußprot. Z. 2 eximirt von der
Reichseisenbahngesetzgebung; endlich von der Reichsmilitärgesetzgebung nach Maßgabe der
Militärkonvention vom 21./25. November 1870 (RVerf. Schlußsatz zu Abschn. XI).
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