464 Retorsion.
Gewerbtreibende, oder gegen den gesammten Staat durch die Systeme und Ord-
nungen des Handelsverkehrs und Gewerbebetriebes oder gegen die gesammte Be-
völkerung durch unbilliges allgemeines Recht oder Rechtsverfahren gerichtet ist.
Schon Moser (VIII. 486) sagt, daß meist Souveräne der R. sich gegeneinander
bedienen. Indeß ordnet jedenfalls der Staat eine R. sowol in Anlaß einer gegen
ihn, als auch, kraft der Repräsentation seiner Staatsangehörigen, in Anlaß einer gegen
diese verschuldeten Unbilligkeit an (Wurm, 459), zu Gunsten eines anderen Staates
aber nur auf Grund eines Bundesverhältnisses, denn ein Staat kann nicht durch
die einseitige Aufforderung des einen Theils zur Exekution gegen den gegnerischen
Theil berechtigt werden und hat in Bezug auf fremde Unterthanen kein Repräsen-
tationsrecht (Wurm, 462). Noch unzulässiger erscheint es, daß ein Staat gegen
einen anderen deshalb auf dem Wege der R. eine Unbilligkeit begeht, weil dieser
letztere gegen einen dritten Staat früher einer gleichen oder ähnlichen sich schuldig gemacht.
Wenn auch solches Verfahren nachweislich stattgehabt (s. Moser, IX., II. 519 ff.),
so war es doch nur eine mißbräuchliche Anwendung der R. Eine R. kann ferner
nur gegen den verschuldenden Staat, nicht gegen einen dritten, sie nicht verschuldenden,
geübt werden: „Retorsio non est nisi adversus eum, qui ipse damni quid dedit,
ac deinde patitur, non vero adversus communem amicum. Qui iniuriam non
fecit, non recte patitur! (Bynkershoet, OQu. iur. publ., I., IV.) — Die Unbillig-
keit eines Staatsangehörigen oder einer der Behörden des Staates ist immer nur
ein entfernter Anlaß zur R., der nächste Anlaß muß in der Unbilligkeit der Staats-
gewalt selbst liegen, d. h. es muß der gegnerische Staat das unbillige Verfahren
seiner Unterthanen oder Behörden, soweit er dasselbe nicht felbst angeordnet, schweigend
oder ausdrücklich gebilligt oder demselben zugestimmt und es dadurch zu dem seinigen
gemacht haben (Berner, 597; Wurm, 459). — Daß nicht immer gegenüber
Unbilligkeiten R. ausreichen oder entsprechend sein werden, muß, namentlich wenn
durch eine Unbilligkeit die Erhaltung der Existenz eines Staates bedroht ist, zu-
gegeben werden und ist praktisch bewährt durch die Kriege Hollands gegen England
in Anlaß der Cromwell'schen Navigationsacte und Ludwig's XIV. gegen Holland wegen
Nichtaufhebung des Verbots der Französischen Waaren (s. Burchardi, 498 ff.).
Englische Schriftsteller erkllären dagegen die R. für das einzig gesetzliche Mittel gegen
Verletzungen der comity, und daß solche Verletzungen einen casus belli nie abgeben
könnten (Phillimore, I. 13; Twiß, II. 18).
Lit.: Wurm, Art. Völkerrechtliche Selbsthülfe, in Rotteck's Staatslex. 1843, Bd. XIV.
457 ff. — Berner, Art. Retorsion, in Bluntschli's Staats Wört. B. 1864, Bd. VIII.
596 ff. — Burchardi in Rotteck's Staatslex. 1865, Bd. XII. 498 ff. — Die völker-
rechtlichen Werke von Wolff (ius gentium), Vattel, Moser (Verf., VIII. 485 ff. und
IX. II. 518 ss.), Martens (V.R.), Klüber, Heffter, Oppenheim, Phillimore
Twiß. — Retorsionsfälle s. Moser, Vers., IX. II. 520 ff., Wurm, 471 ff., und Calvo, I
802. A. Bulmerincq.
Retorsion im Strafrecht ist die Erwiederung einer strafbaren Handlung
durch eine gleiche oder ähnliche strafbare Handlung. Nicht zum Begriffe der R.
gehören daher die Fälle der Nothwehr, auch wo Gleichheit oder Gleichartigkeit der
Handlungen vorhanden ist, da der Nothwehr Uebende sich keiner strafbaren
Handlung schuldig macht. Ebenso scheiden diejenigen Fälle aus, bei welchen (wie
z. B. in § 213 des RStraf G.) verschiedenartige strafbare Handlungen von beiden
Seiten begangen werden. In dem obigen Umfange ist jedoch die R. für das Gebiet
des Strafrechts ohne praktische Bedeutung. In den heute geltenden Strafgesetzbüchern
wird vielmehr gefordert, daß die R. auf der Stelle erfolgt sei, und unter dieser Be-
dingung die R. nicht allgemein, sondern nur bei einigen strafbaren Handlungen
(wechselseitigen Beleidigungen und leichten Körperverletzungen) als fakultativer Straf-
ausschließungs= oder Milderungsgrund berücksichtigt.