Rückwirkung. 497
nung erhalten. Findet nun das neue Gesetz auch auf diese bereits geregelten Verhält-
nisse und auf die bereits in ihrer juristischen Bedeutung bestimmten Handlungen
Anwendung oder nur auf Rechtsverhältnisse und Handlungen dieser Art, welche erst
nach dem Inslebentreten des neuen Gesetzes zum Dasein kamen? Mit anderen
Worten, greift ein Gesetz auch in den bei seiner Erscheinung schon begründeten
subjektiven Rechtszustand ein? Dies ist es, was man die zeitliche Kolli-
sion der Gesetze nennt. Zur Lösung der Kollision müssen die normalen
Grenzen für die zeitliche Herrschaft der Rechtssätze aufgesucht und muß die Frage
so gestellt werden: wieweit erstreckt sich zeitlich die Herrschaft eines Rechtssatzes?
Vom Standpunkt des positiven Rechts — und nur dieser soll hier erörtert werden —
ist die Antwort: die Grenze bestimmt der Gesetzgeber (allgemeiner die rechtschaffende
Macht im Staate). Mithin sind die praktischen, d. h. für die Rechtsanwendung
maßgebenden Regeln über die zeitliche Herrschaft der Gesetze (Rechtssätze) Bestand-
theile des positiven Rechts des Landes. Dieser Ausgangspunkt ergiebt die Folge:
Sobald das positive Recht eines Landes ausdrückliche Normen über die zeitliche
Herrschaft aufstellt, hat der Richter die Kollisionen zwischen dem älteren und dem
neueren Rechtssatz lediglich hiernach zu entscheiden, wie auch der Inhalt dieser Normen
sich zu der aus allgemeinen Erwägungen folgenden Lösung der Frage verhalten mag.
Der Gesetzgeber kann bestimmen, daß alle Handlungen und Verhältnisse der betreffen-
den Art, welche von nun an zur richterlichen Würdigung kommen, ausschließlich
nach dem neuen Gesetz beurtheilt werden sollen, auch diejenigen, welche aus der Zeit
vor Erscheinung dieses Gesetzes stammen. Die Anwendung eines Gesetzes auf ver-
gangene Thatsachen und Zustände in dem angegebenen Sinn bezeichnet man als
R. der Gesetze. Nicht darin besteht also die R., daß einem Gesetz Geltung für eine
frühere Zeit beigelegt und ein vergangener Rechtszustand umgestaltet würde, denn
die Einwirkung auf die Vergangenheit ist durch die Natur der Dinge ausgeschlossen
und an ihr bricht sich auch die Allgewalt des Gesetzgebers. Die R. legt nur ver-
gangenen Thatsachen eine andere rechtliche Bedeutung bei als ihnen bisher zukam,
oder, praktisch ausgedrückt, sie bindet die rechtliche Beurtheilung vergangener That-
sachen an die Normen des neuen Gesetzes. Die Unzulässigkeit der R. wird vielfach
als ein durchgreifender, jeder Ausnahme unfähiger Grundsatz verkündigt, bald als
Rechtsaxiom, das auch für das praktische Recht durch entgegenstehende Verfügung
des Gesetzgebers nicht aus den Angeln gehoben werden kann (Struve, Lassalle),
bald als unabweisbare Forderung an die Gesetzgebung. Die Aufstellung ist in beiderlei
Gestalt unhaltbar: in der ersten, weil im Widerspruch mit der Stellung, welche
der Gesetzgeber gegenüber dem positiven Recht einnimmt, aber auch in der zweiten,
wovon schon das Vorkommen der R. in den Gesetzgebungen aller Länder und Zeiten,
die Gegenwart nicht ausgenommen, überzeugen kann. Der Satz von der Nicht-R.
der Gesetze hat allerdings gute Berechtigung und ist im positiven Recht zur An-
erkennung gelangt, aber als Regel, nicht als Prinzip.
Der vor die Aufgabe gestellte Richter, ob auf ein gewisses Verhältniß oder
Vorkommniß das früher oder das gegenwärtig geltende Gesetz in Anwendung zu
kommen habe, hat seine Untersuchung vor Allem darauf zu richten:
I. ob sich in dem positiven Recht des Landes eine diese Kollisionsfrage ent-
scheidende Norm findet. Solche Vorschriften kommen mit verschiedenem Geltungs-
umfang vor, theils für alle in einem bestimmten Rechtsgebiet erscheinenden Gesetze
(Preuß. LR. Einl. §§ 14—20; Oesterr. BGB. § 5; Sächs. BGB. 88§ 2, 3;
Code civil art. 2; Code pénal art. 4 u. a.), theils für ein einzelnes Gesetz oder
Gesetzbuch, mögen sie hier in ein besonderes Einführungsgesetz (Publikationspatent)
verwiesen oder dem Gesetz selbst einverleibt sein (transitorische Bestimmungen). Manche
Landesrechte besitzen aber ausdrückliche Normen über die zeitliche Herrschaft der Gesetze
überhaupt nicht, andere wenigstens nicht in ausreichendem Maße. Wo nun ein der-
artiger Mangel vorliegt, da ist "
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 32