498 Rückwirkung.
II. der muthmaßliche Wille des Gesetzgebers zu ergründen, denn Recht ist der
Wille der rechtschaffenden Macht. Hier gewinnt die wissenschaftliche Forschung un-
mittelbare praktische Bedeutung. Freilich begegnet uns gerade in dieser Lehre eine
große Verschiedenheit der Ansichten; indeß glücklicherweise weniger in der Beant-
wortung der einzelnen praktischen Fragen als in der Fassung der allgemeinen Regeln,
ein Beweis, daß das unmittelbare Gefühl und der gesunde Takt des Urtheilers
mächtiger ist als die theoretische Formel.
Als Anhalt für die Lösung der zweifellos schwierigen Aufgabe bieten sich im
Allgemeinen folgende, dem Wesen des Gesetzes wie der Rechtsverhältnisse entnommene
Punkte: 1) Zweck der Gesetze überhaupt, 2) Beschaffenheit des besonderen in Frage
befindlichen Gesetzes, 3) Natur der Lebensverhältnisse, zu deren Ordnung dieses Gesetz
bestimmt ist. Was im Einzelnen noch Führer sein kann, entzieht sich einer zusammen-
fassenden Beschreibung. Aus der angegebenen Grundlage wird sofort klar, daß die
Regeln über die zeitliche Herrschaft für die Rechtssätze der einzelnen Rechtszweige
verschieden sind, anders für das Privat-, anders für das öffentliche Recht.
A. Privatrecht. Ein jedes Lebensverhältniß und überhaupt jedes that-
sächliche Vorkommniß wird sofort bei seiner Entstehung durch die zu dieser Zeit
geltende Rechtsnorm (oder Rechtsnormen) ergriffen und nach seiner rechtlichen Be-
deutung bestimmt, sei es zum rechtlich unerheblichen gestempelt oder mit rechtlicher
Gestalt und Wirkung ausgestattet. Der juristischen Anschauung vollzieht sich die
Unterwerfung der Thatsachen unter die Herrschaft der Rechtssätze von selbst (nicht
erst durch das richterliche Urtheil), und für die Rechtsanwendung giebt es keine
Lücke im positiven Recht (Thöl). Es ist nun im Zweifel nicht anzunehmen, daß
der Gesetzgeber die von dem bisherigen Rechte bestimmten Thatsachen und geregelten
Verhältnisse durch das neue Gesetz umformen und in den begründeten subjektiven
Rechtszustand ändernd eingreifen wolle. Den künftig entstehenden Thatsachen (und
Verhältnissen) allein soll in der Regel ein neues Gesetz rechtliches Maß und Ziel
geben (leges et constitutiones futuris certum est dare formam negotiss, non ad
facta praeterita revocari, nisi nominatim de praeterito tempore adhuc pendentibus
negotiis cautum sit. Const. 7 de legibus 1, 14). Daher findet sich in den Rechten
aller der abendländischen Kultur angehörigen Völker (über Chinesisches, Indisches und
Jüdisches Recht s. Lassalle, I. S. 62—68) als Regel der Satz: Gesetze haben keine
rückwirkende Kraft, oder besser: Neue Gesetze finden auf vollendete juri-
stische Thatsachen keine Anwendung.
Dieser Regel gehen aber überall Ausnahmen zur Seite. Vor Allem 1) will
ein Gesetz, welches sich als authentische Interpretation zu erkennen giebt,
sofort in allen Fällen normgebend sein, wo fortan der ausgelegte Rechtssatz zur An-
wendung gelangt (auch in der Appellations= und Revisionsinstanz). Dies ist die
weitgreifendste Ausnahme. 2) Es kommen noch andere Gesetze mit rückwirkender
Kraft vor, sei es daß ihnen dieselbe ausdrücklich oder, wie aus Inhalt und Zweck
unzweideutig erkennbar, stillschweigend beigelegt ist. In letzterer Beziehung stehen
wir vor einer Aufgabe der Gesetzesauslegung. Es sind schon verschiedene Versuche
gemacht worden, derselben durch Aufstellung einer allgemeinen Formel zu Hülfe zu
kommen (Savigny, Bornemann, Lassalle, Rintelen u. a.). Keiner
befriedigt, wobei freilich nicht zu übersehen ist, daß an derartige Formeln keine zu
hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Mit größerer Sicherheit kann im All-
gemeinen der Umfang der R. bei den Gesetzen der zweiten Klasse bestimmt werden.
Wenn durch ein Gesetz das Jagdrecht auf fremdem Grund und Boden, der Klein-
oder der Blutzehent aufgehoben, eine Reallast für ablösbar erklärt, das Fischen in
öffentlichen Gewässern freigegeben wird, so hören im Zweifel auch die schon be-
gründeten Jagd-, Zehnt-, Real-, Fischereirechte mit der Wirksamkeit des Gesetzes auf
zu bestehen. Allein die aus deren bisherigem Bestand bereits erwachsenen Ansprüche
und Verpflichtungen bleiben vom neuen Gesetz unberührt und können auch jetzt noch