512 Sachverständige.
Sachverständige (civilproz.) I. Die Lehre von den S. ist eine der
kontroversenreichsten im Eiv. Prz. Vorfrage für die meisten dieser Kontroversen aber
ist, welche Stellung überhaupt den S. im Civ. Prz. zuzuerkennen sei: die von Richter-
gehülfen oder die von Beweismitteln? Die Gehülfentheorie ist zuerst von Gönner
wissenschaftlich begründet worden. Nach ihm enthält der Wirkungskreis der S. einen
Theil des Richteramtes selbst, sind die S. judices facti, ob nun ihre Thätigkeit
darin bestehe, daß sie Wahrnehmungen rücksichtlich bestrittener Thatsachen, welche
eigentlich der Richter selbst durch Augenschein zu machen hätte, aber in Ermangelung
der zur Wahrnehmung erforderlichen besonderen Kenntnisse nicht machen kann, für
den Richter machen (wahrnehmende, darstellende, beobachtende S.); oder ob sie
darin bestehe, daß sie aus feststehenden Thatsachen die Schlüsse ziehen, welche der
Richter für seine Urtheilsfällung bedarf, aber wiederum wegen Mangels der hierzu
nöthigen technischen Ausbildung selber nicht ziehen kann (urtheilende S.). Diese
ältere Gehülfentheorie, aus welcher man insbesondere die Konsequenz gezogen hatte,
daß das S.gutachten eine der Rechtskraft fähige und mit Rechtsmitteln anfechtbare
Sentenz sei, wurde später aufgegeben: quia ad causam instruendam addbibetur artis
peritus, super causa vero statuere judicis est, wie schon Mevius richtig erkannt
hatte. Dagegen ist namentlich durch Wetzell die Ansicht zur jetzt herrschenden
geworden, wonach die S. zwar nicht selbst Richter, aber allerdings Gehülfen des
Richters, und zwar stets unter Verwerfung des Unterschiedes von wahrnehmenden
und urtheilenden S., bei der Urtheilsfällung sind; „denn auch die S., welche zum
Augenschein zugezogen, dem Richter Worte oder Zeichen leihen, um das Wahr-
genommene kunstgemäß auszudrücken und darzustellen, urtheilen schon“ (Wetzell,
§ 44 N. 13). Die Hauptkonsequenzen dieser Auffassung sind, daß die Zuziehung
von S. jederzeit ex officio geschehen kann; daß die Bestimmung der Zahl und die
Auswahl der S. lediglich Sache des Richters ist; daß die S. nach Analogie der
recusatio judicis abgelehnt werden können; daß endlich die Grundsätze des Beweises
auf sie keine Anwendung finden: daß insbesondere von einer Beweisantretung und
Beweisaufnahme ebensowenig wie von Gegenbeweis und Ergänzung durch richter-
lichen Eid die Rede sein kann. — Waren diesen Anschauungen gegenüber die S.
schon von älteren Prozessualisten und Gesetzen als Zeugen behandelt und testes ge-
nannt worden, so hatte doch schon die Italienische Praxis die Unterschiede zwischen beiden.
klar erkannt (Strippelmann, S. 54); und fand die Beweismitteltheorie,
wie sie namentlich Schneider (Lehre vom rechtlichen Beweise, §§ 176 ff.) ver-
theidigte, wonach der S. „als Zeuge zu betrachten“, das Verfahren mit S. ein
reines Beweisverfahren und streng von der Verhandlungsmaxime beherrscht ist, auch
in der Deutschen Theorie und Praxis wenig Anklang. Vielmehr befolgte die Praxis
des Gemeinen Prozesses allgemein (vgl. Strippelmann, p. IV.) die gemischte
Theorie, wie sie namentlich Mittermaier dargelegt hat. Nach ihr sind die S.
bald Beweismittel, bald Richtergehülfen, je nachdem die Nothwendigkeit ihrer Zu-
ziehung sich im Beweisstadium ergiebt, indem die Parteien den ihnen obliegenden
Beweis nicht anders als durch sachverständige Wahrnehmungen Dritter erbringen
können, oder erst nach geführtem Beweis bei der Urtheilsfällung, indem dem Richter
die Beurtheilung des vorliegenden feststehenden Thatsachenmaterials nur auf Grund
sachverständigen Ermessens möglich ist. Für den letzteren Fall acceptirt die gemischte
Theorie alle die von der Gehülfentheorie gezogenen Konsequenzen; für den ersteren
Fall will sie die allgemeinen Normen des Beweisverfahrens überhaupt und die
Grundsätze des Zeugenbeweises insbesondere angewendet wissen. — Neuestens endlich
hat Obermeyer eineverbesserte Beweismitteltheorie aufgestellt. Ausgehend
davon, daß der Beweisbegriff (z. B. beim richterlichen Eid) von der Verhandlungs-
maxime unabhängig sei; anknüpfend sodann an den Indizienbeweis, bei welchem die Be-
weisthätigkeit zwischen den Parteien und dem Richter getheilt sei, indem die Parteien
vermöge einer „Beweisnachlassung“ lediglich die Prämissen einer Schlußfolgerung