Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Sachverständige. 513 
darzuthun haben, der Richter aber dann selbst den Beweisgrund durch Folgerung 
herstelle; gelangt er zu dem Resultat, daß auch dann, wenn der Richter diese Schluß- 
folgerung nicht selbst ziehen könne, sondern hierzu, sei es ex officio oder aus Antrag 
der Parteien S. beiziehe, diese Beweismittel seien. 
II. De lege ferenda wird man sich (mit Renaud, § 113) für eine gemischte 
Theorie zu entscheiden haben. Der Unterschied zwischen wahrnehmenden und ur- 
theilenden S. ist nicht wegzuleugnen. Wollte man den Begriff des Urtheilens so 
premiren, wie Wetzell es thut, so würde man die ganze bisherige Beweislehre 
umstoßen müssen. Denn fast Alles, was man bisher thatsächliche Behauptung 
nannte und nur als solche für geeignetes Beweisthema erklärte, wird sich bei näherem 
Zusehen als Urtheil darstellen (uvgl. die von Obermeyer, S. 58 zu N. 50 Cit.). 
Jeder sinnliche Eindruck hat, sobald er uns klar zum Bewußtsein gekommen ist, 
einen Reflexionsprozeß durchgemacht und sich zum Urtheil gestaltet. Der Zeuge, 
welcher aussagt, daß das streitige Pferd eine Stute, urtheilt so gut, wie der S., 
welcher bekundet, daß es lungenritzig sei; und doch kann ein Zeugenbeweis nur über 
„Thatsachen“ geführt werden. Niemand wird die Eideszuschiebung darüber, daß 
Probat einen Gegenstand vom Probanten gekauft habe, für unzulässig halten, und 
doch enthält diese Aussage zweifellos ein „Urtheil“, während der Schiedseid nur 
über „Thatsachen“ zulässig ist. Die Unterscheidung von Wahrnehmung und Urtheil 
ist mit anderen Worten allerdings eine „nur relativ gültige, aber unentbehrliche" 
(Obermeyer, S. 57). Die Grenze zwischen beiden aber kann nach Alledem nur 
eine subjektiv begründete sein: wo wir uns des Urtheilsvorganges bewußt, wo wir 
unserer Subsumirung einer konkreten Erscheinung unter einen abstrakten Begriff inne 
werden, da sagen wir, wir „urtheilen“; wo wir vermöge unserer Uebung und Ge- 
wöhnung die Urtheilsoperation unmerklich vollziehen, da behaupten wir „wahr- 
zunehmen“. Der Geübtere, Erfahrenere, Gebildetere sieht und hört und weiß da 
noch, wo der Ungeübtere, Unerfahrenere, Ungebildetere folgern und urtheilen und 
glauben muß. So ist Wetzell's oben citirte Behauptung nicht im Stande, den 
Unterschied zwischen wahrnehmenden und urtheilenden S. zu beseitigen, wie denn 
auch Wetzell selbst inkonsequent genug die Scheidung der „sachverständigen Zeugen“ 
von den S. und ihre Auffassung als reine Beweismittel (Zeugen) adoptirt, obgleich 
sie sich doch nach seiner eigenen Definition von den „wahrnehmenden S.“ nicht 
weiter unterscheiden, als daß sie die Wahrnehmung, die sie jetzt bekunden, nicht 
im Prozesse selbst und zum Zwecke der Bekundung, sondern schon früher und zufällig 
gemacht haben (Syst., § 44 zu N. 14 und dazu Obermeyer, S. 58 zu N. 52; 
S. 61 zu N. 66 ff.). — Auf der anderen Seite beruht aber auch Obermeyer's 
Ansicht, daß auch der urtheilende S. lediglich Beweismittel sei, auf unhaltbarer 
Prämisse. Beim S.-, wie beim Indizienbeweis (vgl. wegen des letzteren Heusler, 
Archiv f. d. civ. Prx. LXII. S. 230 ff.) ist die Beweisthätigkeit bereits zu Ende, 
wenn die Schlußfolgerung beginnt. Die letztere ist nicht mehr Beweisführung, 
sondern Würdigung des geführten Beweises; sie gehört zur urtheilenden Thätig- 
keit des Richters, die sich aus Beweiswürdigung und Rechtsanwendung zusammensetzt 
Der urtheilende S. also, welcher aus feststehenden Thatsachen nach den Regeln seiner 
Kunst eine Schlußfolgerung auf die entscheidende Thatsache zieht, beweist nicht mehr, 
sondern hilft dem Richter einen Theil seines officium erfüllen. — Und so ergiebt 
sich von selbst, daß die urtheilenden S. Richtergehülfen, und als solche durch- 
gängig vom Richter abhängig und nach Analogie desselben den Parteien gegenüber 
zu behandeln; daß dagegen die wahrnehmenden S. Beweismittel und als solche 
den allgemeinen Grundsätzen des Beweises unterworfen, im Einzelnen aber nach 
Analogie der Zeugen zu behandeln sind. 
III. Die Quellen des Gemeinen Prozesses, von welchen das Röm. Recht die 
S. in Anwendung auf den Civ. Prz. nur in zwei, das Kanonische Recht nur in 
fünf Fällen, das ältere Deutsche Recht gar nicht erwähnt, bieten über unsere Frage 
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 38
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.