Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Schulaufficht. 603 
Preußen zum Prinzip der Verwaltung erhoben. Die vorherrschende Richtung auch 
der pädagogischen Literatur erschöpfte sich in der Darlegung der von Niemandem 
bestrittenen Wahrheit von dem nothwendigen Zusammenhang der religiösen und 
geistigen Bildung der Jugend, aus der die grundsätzliche Scheidung nach Religions— 
theilen sich durch einfache Schlußfolgerung ergab. Daß mit der streng kirchlichen 
Organisation der Schule, sowie der Schulaufsicht der Minorität der Kinder anderer 
Bekenntnisse Gewalt an ihrem Recht und ihrem Gewissen geschehe, erregte bei der 
Mehrzahl der Kirchen- wie der Schulmänner wenig Bedenken. Dies Verhältniß 
wurde entweder ignorirt oder als ein nebensächlicher Umstand bemerkt, der zur 
Zeit „und in einigen Tausend“ Volksschulen und einigen hundert höheren Unter- 
richtsanstalten eintrete und oft nur „eine recht geringe Zahl“ von Kindern betreffe. 
Derselbe christliche Standpunkt, der jede Berührung der Kinder seines Bekennt- 
nisses mit Lehrern oder Schülern einer anderen Konfession als ein sacrilegium und 
als gleichbedeutend mit dem System der religionslosen Schule darstellt, trägt kein 
Bedenken, die Kinder der Minorität in Unterrichtsanstalten hineinzuzwingen, die 
ausschließlich im Geist einer anderen Kirche lehren sollen. Wie nach der Gestaltung 
unferer Gemeinden für die Kinder der Minorität zu sorgen sei, glaubt die Mehrheit 
der Fachmänner überhaupt der „Fürsorge des Staats“ überlassen zu können. Bei 
ganz unlösbaren Mischverhältnissen der Konfessionen will der theologische Standpunkt 
allenfalls eine „Simultanschule“ als singulären Nothbehelf bestehen lassen, analog 
einer „Nothcivilehe“, wo die widersprechenden Ansprüche der Kirche mit dem Landes- 
recht absolut unvereinbar sind. Diese Standpunkte verkennen gänzlich, daß solche Miß- 
achtung des schwächeren Theils nur in Staaten mit einem einheitlichen Staats- 
kirchensystem bestehen kann, daß sie dagegen unter 2 gleichberechtigten, gleichmächtigen, 
einander widerstreitenden Kirchensystemen zu Widersprüchen führen, die ihre Lösung 
durch die Gesetzgebung und das Aufsichtsrecht des Staats finden 
müssen. Der individualistische Grundzug unseres Volks, der alle Widersprüche der 
modernen Gesellschaft in seinem Staatswesen aufeinanderhäuft, verfolgt gleichzeitig 
mit dem Einheitsgedanken die Idee einer absoluten Abschließung der Religionstheile 
in souveräner Selbständigkeit bis in ihre äußersten Konsequenzen. Erst durch die 
praktischen Konsequenzen kommt es der Bevölkerung langsam zum Bewußtsein, daß 
man unsere Familienväter nicht zwingen kann;, ihre Kinder in Schulen zu schicken 
und Schulen zu erhalten, welche lediglich Annexa einer anderen Kirche sind, die den 
Glauben dieser Eltern und Kinder als Irrglauben zu bekämpfen für ihre heilige 
Pflicht hält. Dies Verhältniß, welches der Partikularismus in seiner theologischen 
und pädagogischen Gestalt als einen „blos juristischen Standpunkt“ bei Seite schiebt, 
ist es, welches Deutschland zu der mühsam errungenen Gemeinschaft der Schule und 
der Schulaufsicht nothwendig zurückführt. Freilich ist es der rechtliche Gesichtspunkt, 
der im gesellschaftlichen Streit zuletzt zur Geltung kommt. 
In Preußen, wo das System der konfessionellen Schulen seit 1848 noch 
einmal die akuteste Gestalt gewonnen hatte, ist die Rückkehr zu dem historisch ge- 
wordenen Recht durch Ges. v. 11. März 1872 erfolgt: „Unter Aufhebung aller 
entgegenstehenden Bestimmungen steht die Aufsicht über alle Unterrichts= und Er- 
ziehungsanstalten dem Staate zu. Demgemäß handeln alle mit dieser Aussicht 
betrauten Behörden und Beamten im Auftrag des Staats. Die Ernennung der 
Lokal= und Kreisschulinspektoren gebührt dem Staat allein.“ Sachlich entsprechen- 
der wäre der Ausdruck: „Staatliche Oberaufsicht“, insofern als das nähere 
Recht der Familie und der schulunterhaltenden Gemeinde vorbehalten bleiht. Aus 
dem kirchlichen Streit der Gegenwart wird sich als dauerndes Resultat auch wol 
das Anerkenntniß erhalten, daß den Kirchen als organisirten Körperschaften ein 
maßgebender Antheil am Religionsunterricht und eine Stimme in der Regelung 
des Schulplans gewahrt werden muß. Nur in der zusammengesetzten Gestalt, welche 
die Schulkuratorien durch Mitglieder der Ortsobrigkeit, der Gemeindeverwaltung,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.