616 Schulzwang.
tung gekommen. Er kann sich dieser Verpflichtung nicht entziehen, weil es seine
eigenste Sache ist, für die Lebensbedingungen der Gemeinschaft zu sorgen. Es giebt
aber in der That ein nothwendiges Minimalmaß geistiger Entwickelung, welches
der in der Gemeinschaft aufwachsenden Jugend erst die Möglichkeit eines menschen-
würdigen Daseins eröffnet, welches zur Aufrechterhalltung des Nahrungs= und Kultur-
standes der Gesammtheit, ja selbst für die Heeresverfassung und die innere Sicher-
heit des Staatslebens unentbehrlich erscheint. Wie diese Elementarbildung unerläßlich
für alle Staatsangehörige, so ist sie die Voraussetzung und Einleitung für alle
Weiterbildung in den höheren Stufen. Sie wird eben dadurch die Voraussetzung des
geistigen Verkehrs, der ineinandergreifenden Bewegung, des geistigen Fortschritts der
ganzen Nation. Die in ihr gegebene Möglichkeit der Weiterbildung des Ein-
zelnen wird zur Vorbedingung für die geistige Bewegung des Ganzen. Sie kann
daher weder von der zufälligen Auffassung der einzelnen Familie, noch von den Be-
sitzverhältnissen der einzelnen Familie schrankenlos abhängig bleiben, wird vielmehr zum
staatlichen Zwangsrechte in folgenden Grenzen:
1) Der S. beschränkt sich auf die Stufe des Elementarunterrichts,
d. h. auf das Maß intellektueller wie religiöser Bildung, welches nach der Kultur-
stufe des Volks „nicht als Gabe einzelner Familien, noch als ein besonderes Gut
einzelner Klassen der Bevölkerung, sondern als das gemeinsame Bedürfniß Aller für
Alle gewährt werden muß". Es war zuerst das städtische Leben, welches nach der
Reformation die Nothwendigkeit erkannte, außer dem Religionsunterricht die An-
fangsgründe der Wissenschaft in diesen Kanon des allgemein Nothwendigen auf-
zunehmen. Die Städte wurden damit die Wiegen der heutigen Volksschule und
eines eigenen Standes, der Volksschullehrer. Der Wohlfahrtsstaat des 18. Jahr-
hunderts hat sich von da aus des großen Gedankens bemächtigt, weil auch für ihn
Bildung zur „Macht“ wird. Aus manchen Uebertreibungen und Verirrungen dieser
Richtung kommt die heutige Zeit zu der Einsicht, daß nur das gleichmäßig
Durchführbare Gegenstand des Zwanges sein kann, daß der Elementarunterricht eine
organische Stufe des gesammten Bildungswesens bis zur höchsten Berufsbildung hinauf
werden, daß ebendeshalb seine Grenze mit dem Stand des gesammten Bildungs-
wesens nothwendig wechseln muß. Schon aus diesem Grunde kann das Unterrichts-
wesen nur durch die organisirende Gewalt des Staats als Ganzes gestaltet werden,
und kann deshalb an der Selbständigkeit der Kirchen, Gemeinden und Familien keine
absolute Grenze finden.
2) Die obligatorische Elementarschule umfaßt auch den Religionsunter-
richt — ihren ursprünglich ausschließlichen Gegenstand. Es ist dies das historische
Recht der anerkannten Kirchen. Es läßt sich nicht ignoriren, daß immer noch ein
erheblicher Theil der Ausstattung der Volksschule ein Erbtheil der kirchlichen Ge-
meinden und Institute ist, und daß 98— 99 Prozent der Bevölkerung in Deutsch-
land mit ihrem kirchlichen Bekenntniß auch dies Erbgut überkommen haben. Noch
allgemeiner spricht dafür das sachliche Bedürfniß, welches den Religionsunterricht als
Grundlage aller Lehre der unmündigen Jugend festhalten muß. Eine Trennung
von Volks= und Religionsschule würde zu einem Dualismus kirchlicher und welt-
licher Schule führen. Beide würden sich bekämpfen, anstatt zusammenzuwirken. Beide
würden verkümmern, wo die vorhandene Ausstattung kaum für eine Schule aus-
reicht. In Deutschland insbesondere würde der Zwiespalt aller Lebensanschauungen
und Gewohnheiten durch die ausschließlich kirchliche Volksschule von Unten herauf
der Nation wiederum anerzogen werden. — Es entsteht durch dies schwierige Ver-
hältniß eine neue Staatsaufgabe, welche in Deutschland ihre Grundlage in der Pa-
rität der anerkannten Kirchen findet, vermöge deren eine gleiche Fürsorge und Ver-
wendung des überkommenen Schulvermögeas stattfinden muß, nicht mehr nach einem
Normaljahr, sondern nach dem heutigen Stand der Bevölkerung und des Be-
dürfnisses. Diese Parität und das gleiche Recht der dissentirenden Bekenntnisse auf