Sonderrechte. 701
Korporationen, Gemeinschaften, Genossenschaften, Vereine zu öffentlichen und privat-
rechtlichen Zwecken ꝛc. In diesem Sinne hat der Begriff der S. eine durch die
Deutsche Rechtsgeschichte sich hindurchziehende Entwickelung, welche für die Gestaltung
von Staat, Kirche, Stadtgemeinde rc. von Erheblichkeit ist. Von ganz besonderem
Werth ist der gleiche Begriff für das Recht der Genossenschaften geworden, welche
in Deutschland zu zahlreichen öffentlichen und privaten Zwecken, insbesondere auch
als Erwerbsgenossenschaften ausgebildet worden sind (vgl. hierzu Gierke, Das
Deutsche Genossenschaftsrecht, 2 Bände, Berlin 1873). Eine hervorragende Bedeutung
hat derselbe Rechtsbegriff auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes in neuester Zeit
seit Wiederherstellung des Deutschen Reiches erlangt. Das Reich besteht aus einer
Reihe einzelner Staaten, die sich zu einem Bundesstaat vereinigt haben. Für die
Interpretation der Reichsverfassung ist von hoher Wichtigkeit die Frage, wie weit
die einzelnen Mitglieder durch die Bündnißverträge obligirt sind, und wie weit das
Reich vermöge seiner Organe auf den gegenwärtigen Stand des Bündnisses eine
Veränderung auszuüben im Stande ist. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es
einer Feststellung derjenigen Rechte, S. genannt, welche den einzelnen Gliedern des
Bundesstaates in und gegenüber demselben zustehen. Sie zerfallen in solche, die in
der Bundesverfassung resp. in den als Grundlage derselben bestehenden Verträgen
ausdrücklich vereinbart sind, und in andere, die sich, ohne ausdrücklich vereinbart
zu sein, aus der rechtlichen Natur des Bundesstaates von selbst ergeben. Eine
systematische Entwickelung dieser S. ist in neuester Zeit von Laband, kurz vorher
von Hänel unternommen worden. (Laband, Der Begriff der S. nach Deutschem
Reichsrecht, in Hirth's Annalen 1874, S. 1487—1524, und derselbe in seinem
Staatsrecht des Deutschen Reiches, Tübingen 1876, Bd. I. S. 109 ff.; Hänel,
Studien zum Deutschen Staatsrecht, Bd. I. Leipzig 1873, S. 183 ff.). Laband
führt aus (Staatsrecht, Bd. I. S. 109), es ergebe sich aus der Natur des Bundes-
staates als einer aus Staaten bestehenden öffentlich-rechtlichen Korporation, daß die
Mitgliedsstaaten Rechte sowie auch Pflichten haben. Die Rechte werden unterschieden
in Mitgliedschaftsrechte und S. Unter den letzteren versteht Laband bestimmte
Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit, welche Ab-
weichungen von der sonst geltenden Regel zu Gunsten eines oder einzelner Staaten
bilden. Ihrem Inhalte nach unterscheidet er die ausdrücklich konstituirten S., im
Wesentlichen in Uebereinstimmung mit Hänel, in Beschränkungen der Kompetenz des
Reiches, z. B. die Ausschließung Württembergs und Bayerns hinsichtlich des Post-
und Telegraphenwesens und hinsichtlich der Besteuerung von Branntwein und Bier,
ferner in diejenigen Rechte, welche gewissen Staaten hinsichtlich der Organisation
des Reiches eine bevorzugte Stellung gewähren, z. B. das Recht Preußens, daß
dem Könige von Preußen das Präsidium zusteht, das Recht Bayerns, in dem Bundes-
rathe für das Landheer und die Festungen einen ständigen Sitz zu haben und den
Vorsitz in dem Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten zu führen, endlich in
gewisse finanzielle Begünstigungen, z. B. die fiskalischen Ansprüche Hessens gegen
die Reichspostverwaltung, der Anspruch Bayerns auf eine Vergütung der Leistungen
für den diplomatischen Dienst 2c. 2c. Die Feststellung dieser S., welche in der Ver-
sassung oder den sonst bestehenden Verträgen ausdrücklich vereinbart sind, unter-
liegt keinen besonderen Schwierigkeiten. Auch darüber besteht kaum ein begründeter
Zweifel, daß diese Rechte nur unter Zustimmung der betreffenden Berechtigten auf-
gehoben oder verändert werden können (vgl. Laband, Staatsrecht, Bd. I. S. 119).
Schwieriger ist aber die Entwickelung und Feststellung derjenigen S., welche nicht
in der Verfassung oder den Verträgen ausdrücklich genannt sind, sondern sich aus
der rechtlichen Natur des Bundesstaates von selbst ergeben. In dieser Beziehung
herrscht vorläufig Meinungsverschiedenheit unter den Juristen, die wol bei dem eigen-
thümlichen Charakter der Materie nicht anders als auf der Basis von Präzedenzfällen
eine definitive Lösung finden wird (vgl. hierzu Laband, Staatsrecht, Bd. I. S. 118 ff.,