936 Unterlassungsverbrechen.
„Es ist nicht nothwendig, daß die wirkende Ursache unmittelbar durch die
physischen Kräfte eines Menschen in Bewegung gesetzt wurde, und daß dieser erste
Anstoß allein ausreichte, den Erfolg herbeizuführen; es genügt, daß die menschliche
Thätigkeit die elementaren Kräfte in Bewegung setzte, den Anstoß zu jener Ver-
kettung von Zwischenursachen gab, an deren Ende der verbrecherische Erfolg steht;
ebenso gewiß genügt es umgekehrt, daß der Mensch der bereits in Bewegung gesetzten
Kraft die Richtung gegen ein bestimmtes Objekt gab, oder ihre Wirksamkeit steigerte,
sicherte, ja auch nur beschleunigte. Aber von einem aus seiner Kausalität erwachsenen
Erfolg, von einer Wirkung, deren Ursache in seinem Benehmen zu suchen ist, kann
nicht die Rede sein, wenn erster Anstoß und Verlauf jener Kette von Ursachen, an
deren Ende der strafbare Erfolg steht, ganz außerhalb des Bereichs seines wirklichen
Thuns liegen und der Erfolg nur insofern durch sein Thun und Lassen bedingt
ist, als er den Eintritt hätte hindern können, als also jener Erfolg (sicher oder
wahrscheinlich) ausgeblieben wäre, wenn der Mensch sich hindernd dazwischengestellt
hätte. Es giebt übrigens für die Prüfung des Kaufalzusammenhanges einen sicheren
Anhaltspunkt; versucht man es, den angeblichen Urheber ganz aus der Summe der
Ereignisse hinwegzudenken, und zeigt sich's dann, daß nichtsdestoweniger die Reihen-
folge der Zwischenursachen dieselbe bleibt; so ist klar, daß die That und deren
Erfolg nicht auf die Wirksamkeit dieses Menschen zurückgeführt werden können. Zeigt
sich dagegen, daß, diesen Menschen einmal vom Schauplatz des Ereignisses hinweg-
gedacht, der Erfolg gar nicht eintreten konnte, oder daß er doch in ganz anderer
Art, d. i. auf ganz anderem Wege, hätte eintreten müssen: dann ist man gewiß
vollkommen berechtigt, den Erfolg jenem Menschen anzurechnen, ihn als die Wirkung
seiner Thätigkeit zu erklären. Er ist (von der Mitwirkung zum Verbrechen
eines Anderen wird hier abgesehen) der Urheber.“
Ist dies richtig, so wird nun bei beiden oben angeführten Gruppen von Fällen
der Kausalnexus nicht bestritten werden, wenn zur Zeit, wo der Schuldige jenes
Positive, das in beiden gefordert wird, setzte, schon schuldhaft (d. h. dolos bei einem
dolosen, kulpos bei einem kulposen Delikt; hier trennt sich, wie Merkel richtig
bemerkt, sein Weg von dem meinen) sich verhielt; wol aber findet man Schwierig-
keiten, und zwar für beide Gruppen gleichmäßig, wenn Dolus oder Kulpa
erst später hinzutreten. Für mich liegt nun die Lösung der Schwierigkeit in dem
Nachweis, daß man in solchen Fällen mit Unrecht von nachfolgender Schuld
spricht, daß also der Erfolg hier als ein dolos (um nicht immer die Kulpa zu erwähnen,
von der das Gleiche gilt) herbeigeführter anzusehen ist: „Von dem Augenblicke an-
gefangen, wo der Mensch zu dem Objekt der Verletzung in eine thatsächliche Be-
ziehung tritt“ (diese vielfach als ungenau angefochtene Redewendung präzisire ich jetzt
durch folgenden Zusatz: welche es rechtfertigt, den späteren Erfolg auf sein Handeln
zurückzubeziehen) „bis zu dem, wo der Bestand oder Nichtbestand der Verletzung"
(und zwar als einer von ihm herbeigeführten) „von seiner Willkür völlig
unabhängig geworden ist, — in dieser ganzen Zeit bildet sein positives und sein
negatives Verhalten ein Ganzes. Innerhalb dieses Zeitraumes muß dann auch,
wenn von dem Dolus die Rede sein soll, der Dolus eingetreten sein und das Be-
nehmen des Thäters bestimmt haben.“
Allerdings — und das ist das Wahre an der Warnung vor der Annahme
des sog. dolus subsequens — giebt es einen Zeitpunkt, bei welchem angekommen, die
Handlung diesen Charakter nicht mehr annehmen kann; das ist aber gerade derjenige,
in welchem Dolus auch wirklich zu ihr gar nicht mehr hinzutreten kann; Dolus
als Bestimmung des Willens zum Thun oder Unterlassen ist doch wol nur denkbar,
so lange von diesem Thun oder Unterlassen der zum Begriff des Deliktes erforder-
liche Erfolg abhängen kann. Wo dies nicht mehr der Fall ist, kann man Wünsche
hegen, verwerfliche Gesinnungen äußern, aber keinen Dolus mehr in sich aufnehmen.