Unterlassungsverbrechen. 937
Von dem Augenblicke an, wo die Handlung aufhört, dem Handelnden anzugehören,
wo sie nämlich, von seiner Willkür unabhängig geworden, ihren eigenen Lauf nimmt,
und der Bestand der Verletzung daher von dem Wollen oder Nichtwollen des
Thäters nicht mehr abhängen kann, von diesem Augenblicke an kann von Dolus
nicht mehr die Rede sein, aber auch nicht mehr von einer Handlung; was da noch
nachkommt, ist von Menschenwillkür Unabhängiges, d. h. es ist Ereigniß. Wer
unversehens im Walde einen Menschen erschießt, weil er ihn für ein Thier gehalten
und dann an den Sterbenden herantretend, sich freut, in ihm einen Todfeind zu
erkennen, wird durch diese Freude, durch den Wunsch, daß Jener sterben möge,
noch nicht zum Mörder, weil bei diesem Stand der Dinge sein Wille auf sein
Thun, sein Thun auf den Erfolg keinen Einfluß mehr üben kann. Ist es aber
nicht etwas Anderes, wenn sich nun zeigt, daß der Getroffene nicht tödtlich ver-
wundet sei, und wenn nun der Wunsch, den Tod desselben herbeizuführen, den
Urheber der Verletzung bestimmt, den Hülflosen im Walde sich selbst, d. h. dem
sodann unvermeidlichen Tode zu überlassen? Kann hier auch von dolus subsequens
gesprochen werden? Die Schwierigkeiten, welche aus dem späteren Hinzutreten des
Dolus entstehen, sind also eben nur scheinbare, sobald man den Unterschied nicht
übersieht, welcher zwischen einem Seelenvorgang, welcher am Verlauf der Dinge
nichts mehr ändern konnte und einem solchen, ohne welchen er ein durchaus anderer
hätte werden müssen oder können, besteht. Läßt man ihn gelten, erachtet man eine
schuldhafte Selbstbestimmung für ausreichend, vermöge welcher Jemand die verderb-
lichen Folgen seines eigenen Thuns, obgleich er sie aufhalten konnte, vorsätzlich oder
fahrlässig aufzuhalten unterläßt, so hat man eine für alle in Frage kommenden
Fälle ausreichende Rechtfertigung der Bestrafung, welche das natürliche Gefühl und
der juristische Sinn gleichmäßig fordern; läßt man ihn nicht gelten, so tritt das
ein, was die neueste lebhaft mit unserem Stoffe sich beschäftigende Literatur aller
Orten zeigt: Man muß entweder (bewußt oder unbewußt) zu der älteren Auf-
fassung zurück, welche die Gleichstellung der Unterlassung mit der Handlung lediglich
mit der Pflichtwidrigkeit der ersteren begründet, oder man muß zu künstlichen Unter-
scheidungen greifen, mit welchen fast noch jeder, der sie aufstellte, allein geblieben
ist, nach welcher z. B. eine so vage Formel, wie die Verweisung auf die „Regel
des Lebens“ (v. Bay für ausreichend angesehen werden soll, die Probleme nicht der
Zurechnung zur Schuld, sondern zur. Kaufalität zu lösen, oder das Vorhandensein
einer bloßen Möglichkeit, einen bestimmten Erfolg vorauszusehen, ausreichen soll,
den nachher eintretenden Dolus von der Makel des dolus subsequens zu befreien
(Merkel), oder gelangt mit Binding, welcher mir gegenüber von einem Dolus
spricht, „der etwas Schuldloses hinter sich und Nichts vor sich hat“ und daher
„an etwas Thatsächliches sich nicht anhaften kann“, dahin, dem internen Vorgang
der Willensänderung eine noch viel größere Bedeutung für die Verursachung bei-
zumessen, als ich that, und jedenfalls entschieden auszusprechen: „So lange es in
unserer Macht steht, den von uns gesetzten positiven Bedingungen die fördernde
Kraft zu nehmen, so lange haben wir nicht verursacht; erst wenn wir dies zu thun
nicht mehr vermögen oder nicht zu thun beschließen, wird die Ursache fertig,
weil unwiderruflich.“ — Weit entfernt, die große Bedeutung der der meinigen
nachfolgenden Untersuchungen und die mannigfache Belehrung und Berichtigung, die
ich aus ihnen gewonnen, zu leugnen, glaube ich doch nicht, daß es hier am Platze
oder daß es mir — selbst die nöthige Objektivität vorausgesetzt — auf dem hier
gestatteten Raume möglich wäre, die Ergebnisse dieser Untersuchungen hier übersicht-
lich darzustellen. Ich beschränke mich also darauf zu konstatiren, daß dieselben
einen definitiven Abschluß nicht herbeigeführt haben, aber auch in aller Be-
scheidenheit anzuerkennen, daß ich für meinen Erklärungsversuch die ihm von Bin-
ding zuerkannte Bezeichnung als „herrschende Lehre“ nicht in Anspruch nehmen kann.