Unterrichtsgesetzgebung. 939
Aerzte, für Assoziationen zur Pflege der Naturwissenschaften, Künste und technischen
Fertigkeiten einen freieren Spielraum, verhinderte die Entstehung eines selbständigen
Lehrerstandes, und ließ den Elementarunterricht in tiefer Verwahrlosung zurück bis zu
dem Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts. Mit der Neubildung der Gesellschaft
beginnt im 19. Jahrhundert die energische Aufnahme des staatlichen Kulturzweckes
in regem Wetteifer, aber auch in heftigem Interessenstreit, zwischen Staatskirche und
Dissenterthum, zwischen der Aristokratie und städtischen Interessen, in welchem gerade
die der Hülfe bedürftigste Seite des Volksunterrichts noch lange zurückblieb. Erst
nach der Reformbill trat das Parlament mit Staatsunterstützung ein, die in
rasch anschwellendem Umfang eine Regelung der Schullehrerseminare, der Lehrer-
qualifikationen und der Schulpläne zum Zweck des Maßstabes der Unterstützun-
gen herbeiführten. Es entwickelt sich daraus ein ministerielles Regulativrecht,
welches aus dem Interessenstreit heraus die Schule als nationale Institution her-
auszuarbeiten redlich bemüht war. Diese Arbeit ist soweit vorgeschritten, um in
dem Schulverwaltungsgesetz von 1870 wichtige Grundzüge einer Organisation, ein
neues Selbstverwaltungssystem und einen Uebergang in das System des Schulzwangs
zu erreichen. Trotz der langsam fortschreitenden Reform der Korporationsverfassung
der Universitäten und Stiftungsschulen, trotz der Zusammenhangslosigkeit der ver-
schiedenen Stufen des Unterrichtswesens, trotz des Mangels eines höher gebildeten
Lehrerpersonals und des fortdauernden Widerstandes mächtiger Interessen, hat indessen
die regierende Klasse Englands (und zwar in einem regen Wetteifer beider Parteien
und mit großen Geldopfern der Gemeindeverbände) die große Aufgabe des
Schulzwanges und der Organisation des Elementarunterrichts folgerichtig weiter
geführt.
In Frankreich hat die Revolution durch die einseitige Richtung auf ge-
sellschaftliche Interessen auch die U. gehemmt und geschädigt. Der Romanische
Idealismus, der in der ersten revolutionären Begeisterung den Unterricht der Jugend
als große „nationale Aufgabe“ anerkannte, leistete einen nur kurz dauernden Wider-
stand gegen den Durchbruch der Klasseninteressen der Gesellschaft, welche eine selbst-
ständige Staatsgewalt negirte und doch nicht zu entbehren vermochte, — welche in
dem Streit gesellschaftlicher Interessen das Bewußtsein staatlicher Pflichten verlor,
und doch die äußere Natur der Staatsgewalt nicht ändern konnte. Es ging daraus
ein absolutistisches System der Staatsverwaltung hervor, — eine Staatsgewalt, die,
nur von der zeitigen Gesellschaft eingesetzt, durch die revolutionären Grundlehren nur
auf Widerruf gestellt, umsomehr absolutistisch blieb, und welche schon zum Zweck
der Selbsterhaltung der straffsten Centralisation und einer stetigen Transaktion mit
der wiederauflebenden Gewalt der Römisch-katholischen Kirche bedurfte. Das ge-
sammte Unterrichtswesen wurde damit ein Theil des Napoleonischen Verwaltungs-
staates, in einer schematischen Ordnung, welche die Freiheit der individuellen Ent-
wickelung von Oben nach Unten in ein büreaukratisches System bannt, den Glanz
centraler Institutionen mit der dürftigsten Ausstattung der Elementarschule und
ihres Lehrpersonals erkauft, und unter dem Namen „Freiheit des Unterrichts“ der
Römisch-katholischen Kirche und ihren geistlichen Orden eine befestigte Herrschaft über
die Erziehung und das geistige Leben des Volkes gewährt. Die verständige Einsicht
der besitzenden Klassen hat nach der Julirevolution eine Zeit hindurch die bessere
Ausstattung und Hebung der Volksschule ernstlich erstrebt. Der fortdauernde Kampf
um Macht und Herrschaft, der Mangel ernsten Kommunalsinns und wirklichen Ge-
meindelebens, und schließlich der mangelnde Sinn für eine gesetzmäßige, ihrer Selbst-
verantwortlichkeit bewußte Freiheit, hat indessen unter dem zweiten Keiserreiche zu
einer Beherrschung des Unterrichtswesens durch den Klerus und die geistlichen Orden
in früher unerhörtem Maße geführt, gegen welche die neue Republik einen neuen
Kampf begonnen hat. Es ist nicht mehr die revolutionäre Feindschaft gegen die
Kirche, sondern ein besonnenes Bestreben der besitzenden Klassen, welches jetzt durch