Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

972 Urkundenbeweis. 
frühere richterliche Vernehmung (nicht über eine polizeiliche Vernehmung, s. das Erk. 
des Reichsger, vom 20. September 1880 — Rechtspr. II. S. 218 ff.) eines Zeugen, 
Sachverständigen, Mitbeschuldigten oder bereits verurtheilten Mitschuldigen verlesen 
werden kann, wenn derselbe verstorben oder in Geisteskrankheit verfallen oder wenn 
sein Aufenthalt nicht zu ermitteln gewesen ist. In den im § 222 bezeichneten 
Fällen, d. h. wenn dem Erscheinen eines Zeugen oder Sachverständigen in der Haupt- 
verhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit oder Gebrechlichkeit oder 
andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen, ist die Verlesung des Protokolls 
über die frühere Vernehmung statthaft, wenn letztere nach Eröffnung des Haupt- 
verfahrens oder wenn sie im Vorverfahren unter Beobachtung der Vorschriften des 
§ 191 (wonach Staatsanwaltschaft, Angeschuldigter und Vertheidiger das Recht 
haben, der Vernehmung beizuwohnen) erfolgt ist. — Die Verlesung des Protokolls 
in der Hauptverhandlung kann nur durch Gerichtsbeschluß angeordnet, auch muß der 
Grund derselben verkündet und bemerkt werden, ob die Beeidigung der vernommenen 
Personen stattgefunden hat, und zwar dies Alles bei sonstiger Nichtigkeit (s. die Erk. des 
Reichsger. vom 10. Dezember 1879, 2. und 3. März, 5. April und 20. September 
1880 — (Nechtspr. I. S. 141 ff., 412 ff., 418 ff., 538 ff., II. S. 223). An den 
Bestimmungen über die Nothwendigkeit der Beeidigung wird hierdurch in denjenigen 
Fällen, in welchen die nochmalige Vernehmung ausführbar ist, nichts geändert. — 
Das Gericht darf die Verlesung der Protokolle nicht zulassen, wenn die Gründe, die 
im § 222 angegeben find, mittlerweile weggefallen sind; es muß also in dem Ge- 
richtsbeschluß, welcher die Verlesung anordnet, ausdrücklich die Fortdauer eines jener 
Gründe festgestellt sein (s. die Erk. des Reichsger. vom 3. und 22. April 
1880 — Rechtspr. I. S. 533 ff., 646 ff.). Findet das Gericht die mündliche Ver- 
nehmung erforderlich, so kann es den Zeugen, Mitbeschuldigten u. f. w., ungeachtet 
der großen Entfernung desselben, vorladen, auch die Hauptverhandlung bis zur Be- 
seitigung der dem Erscheinen entgegenstehenden Hindernisse vertagen. 
3) Betreffs der schriftlichen Erklärungen enthält der 1. Absatz des § 255 
folgende Bestimmungen: „Die ein Zeugniß oder ein Gutachten enthaltenden Erklä- 
rungen öffentlicher Behörden, mit Ausschluß von Leumundszeugnissen (eine Ausnahme, 
welche sehr zu billigen ist), desgleichen ärztliche Atteste über Körperverletzungen, 
welche nicht zu den schweren gehören, können verlesen werden“. Doch bleibt es (wie 
die Motive hierzu bemerken) hinsichtlich jener Behörden, welche nur aus einem Be- 
amten bestehen, dem Ermessen des Gerichts überlassen, oh dasselbe den Beamten 
mündlich vernehmen oder sich mit seiner schriftlichen Auskunft begnügen will. — Der 
Beweis über den Leumund einer Person kann nach dem Gesetz nur durch mündliche 
Zeugenvernehmung geführt werden. Leumundszeugnisse dürfen selbst mit Zustimmung 
aller am Prozeß Betheiligten nicht verlesen werden. Auch jener Theil einer herbei- 
geschafften Beweisurkunde darf nicht verlesen werden, der ein Leumundszeugniß ent- 
hält (Erk. des Reichsger. vom 31. März 1880 — Rechtspr. I. S. 523 ff.). 
Mit Recht hat aber das Reichsgericht (Erk. vom 2. Febr. 1880 — Rechtspr. 
I. S. 311 ff.) in einem Zeugniß, welches ein Lehrer über die (intellektuelle) Be- 
fähigung und die hierdurch bedingte Glaubwürdigkeit eines Schulknaben ausgestellt 
hatte, kein Leumundszeugniß erblickt. — Ist das Gutachten einer kollegialen Fach- 
behörde eingeholt worden, so kann das Gericht (laut Abs. 2 des § 255) die Behörde 
ersuchen, eines ihrer Mitglieder mit der Vertretung des Gutachtens in der Haupt- 
verhandlung zu beauftragen und dasselbe dem Gericht zu bezeichnen, damit auf diese 
Weise eine mündliche Erörterung des schriftlich erstatteten Gutachtens (welches in der 
Regel ebenfalls verlesen werden wird) zu ermöglichen. Eine Verpflichtung der Be- 
hörde zur Abordnung eines Vertreters besteht übrigens nicht. Andererseits ist es 
gewiß zulässig, daß, wenn das Gutachten nicht einstimmig erstattet worden ist, neben 
dem Vertreter der Mehrheit auch einer der Minderheit zur Hauptverhandlung bei- 
gezogen wird.
	        
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