Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

988 Urthell. 
bleibt aber der Hinweis auf das rein Thatsächliche. Es ist daher schon oben be- 
merkt worden, daß das Gericht an die Rechtsansicht, von welcher der Verfasser der 
Anklage ausging, in keiner Weise gebunden sei, es kann also urtheilen, daß die 
That, obgleich sich die Angaben des Anklägers über dieselbe in der Hauptverhandlung 
vollständig bewährten, nicht unter den in der Anklage geltend gemachten strafrecht- 
lichen Gesichtspunkt, daß sie unter gar kein Strafgesetz oder unter ein anderes als 
das angerufene falle. Allein nur sehr selten wird eine solche Abweichung von 
der Anklage lediglich auf Verschiedenheit der juristischen Beurtheilung eines 
völlig gleichen Sachverhaltes beruhen. Fast immer wird hinzutreten, daß 
ein Theil der ausdrücklichen oder durch Hinweisung auf einen bestimmten Delikts- 
begriff ausgedrückten thatsächlichen Behauptungen der Anklage sich vor den Augen des 
erkennenden Gerichtes nicht bewährte, oder daß letzteres Thatumstände vorfindet, 
welche die Anklage nicht berücksichtigte und die nach seiner Auffassung die strafrecht- 
liche Natur der Sache ändern; oder es kann Beides vereint eintreten. Die Be- 
fugniß des Gerichtes, im U. seiner auf diese Art gewonnenen Ueberzeugung freien 
Ausdruck zu geben, wird man nicht bestreiten, sobald man anerkennt, daß 
nicht die Anklage das positive und die Hauptverhandlung das negative Material 
des Urtheils zu bilden habe, sondern umgekehrt, — daß das Gericht die ihm 
durch die Anklage gestellte Aufgabe, einen bestimmten Vorfall in thatsächlicher 
und juristischer Hinsicht zu beurtheilen, auf Grund der Hauptverhandlung zu lösen 
hat, allerdings jedoch ohne erstere zu überschreiten, ohne also seiner Beurtheilung 
eine That zu unterstellen, auf welche die Anklage sich nicht bezog, oder Thatum- 
stände heranzuziehen, welche auf die Beurtheilung des Gegenstandes der Anklage 
keinen Einfluß üben. "„ 
Diese Grundsätze haben in unseren StrafP O. volle Anerkennung gefunden. 
„Ueber das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, 
aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung“ (Deutsche StrafP O. 
§ 260). „Das Gericht ist an diejenige Beurtheilung der That, welche dem Be- 
schlusse über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu Grunde liegt, nicht gebunden“ 
(das. § 263 Abs. 2). „Erachtet der Gerichtshof, daß die der Anklage zu Grunde 
liegenden Thatsachen an sich oder in Verbindung mit den erst in der Hauptver- 
handlung hervorgetretenen Umständen eine andere als die in der Anklage bezeichnete. 
strafbare Handlung begründen, so schöpft er . das Urtheil nach seiner rechtlichen 
Ueberzeugung, ohne an die in der Anklageschrift enthaltene Bezeichnung der That 
gebunden zu sein“ (DOesterreichische StrafPH O. § 262). Vermöge dieser Grundsätze 
kann also das U. dahin gelangen, die dem Angeklagten zur Last gelegte That auf 
eine höhere oder tiefere Stufe in derselben Klasse strafbarer Handlungen zu stellen 
oder sie auch unter einen ganz andern Deliktsbegriff zu bringen. Doch erleidet 
diese Befugniß Einschränkung aus einem dreifachen Gesichtspunkt: 
1) Es kann sich zeigen, daß die That unter den Gesichtspunft gebracht, welchen 
das Gericht für den richtigen hält, seine Machtbefugniß überschreitet. Es liegt in 
der Natur der Sache, daß das Gericht sich in solchem Falle auf diesen Ausspruch, 
welcher in der Regel die Form der Inkompetenzerklärung annehmen wird, 
manchmal aber auch (bei absoluter Inkompetenz) den Abbruch des Strafverfahrens 
und die Unzulässigkeit seiner Fortsetzung enthält (s. oben 1), beschränken muß. Die 
Gesetze waren übrigens bemüht, die Nothwendigkeit solcher Beschlüsse möglichst fern 
zu halten. So kann eine aus der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung her- 
vorgegangene Aenderung der thatsächlichen Voraussetzungen, welche die örtliche Kom- 
petenz begründen, keinen Einfluß üben. Ebenso ist das Gericht berechtigt, die Sache 
zu Ende zu führen, obgleich sie vermöge seiner Auffassung derfelben eigentlich vor 
ein Gericht niederer Ordnung gehört hätte. — Außerdem sind die Schöffen- 
gerichte (s. diesen Art.) noch durch Spezialbestimmungen ermächtigt, gewisse Straf- 
sachen abzuurtheilen, welche, wären sie in ihrer wahren Beschaffenheit früher erkannt
	        
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