Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

Urtheil. 989 
worden, gar nicht vor sie hätten gelangen dürfen. Abgesehen hiervon hat aber das 
Gericht über die Voraussetzungen einer in Frage kommenden Inkompetenzerklärung 
sich selbst eine Meinung zu bilden; es ist prima facie mit der Sache ordnungs- 
mäßig befaßt und muß positive Gründe haben, sie von sich zu weisen; es darf nicht 
etwa vor einer Behauptung oder Möglichkeit eines Sachverhaltes, welcher die Sache 
seiner Zuständigkeit entrücken würde, stehen bleiben, weil die Prüfung derselben schon 
nicht mehr ihm, sondern dem eventuell zuständigen Gerichte zukomme. Wo diese 
Bestimmungen nicht ausreichen, und nur die Alternative bleibt, daß das Gericht 
entweder die ihm richtig scheinende Beschaffenheit der That unberücksichtigt lasse oder 
eine Verurtheilung ausspreche, welche die Grenzen seiner Strafgewalt überschreitet, 
da steht man vor einem legislativen Problem, dessen Löfung schon die bedenklichsten 
Verwickelungen hervorgerufen hat (vgl. namentlich Stengel, Die wiederbelebte In- 
stanzentbindung, München 1859; Glaser, Gef. Kl. Schriften, I. 337 Anm. 15). 
Sowol die Deutsche als die Oesterr. StrafP O. waren daher darauf bedacht, 
diesen zu entgehen. Zwar behandeln sie den Gegenstand nicht in gleicher Weise. 
Die Deutsche StrafPO. (§ 270) läßt die Frage durch einen Beschluß erledigen, 
welcher mit sehr erheblichen (und streitigen — s. Voitus, Kontroversen, I. S. 
328 ff.) Einschränkungen der Beschwerde unterliegt; die Oesterr. dagegen (§ 261) 
unterwirft den „Ausspruch“ des Gerichtes über die Inkompetenz demselben Rechts- 
mittelzug, wie das Endurtheil (§§ 281 Z. 6, 288 Z. 2), weshalb es weiter keine 
Bedeutung hat, ob der Ausspruch in der Form des U. auszufertigen ist, wie ich und 
Krall glauben, oder in der des Beschlusses, wie Ullmann sowie Mitterbacher, 
Neumayer und Rosenblatt meinen. Indeß kommen beide Gesetze im Haupt- 
punkt überein. Sie gehen nämlich beide von dem älteren, ein förmliches Vexirspiel 
eröffnenden Vorgang ab, welcher nach der Inkompetenzerklärung in der Hauptver- 
handlung die für die schweren Delikte zuständige Anklagebehörde über die Versetzung 
in Anklagestand auf Grund des gleichen Materials berathen ließ, ersetzen also durch 
die Hauptverhandlung und die Inkompetenzerklärung den sonst nöthigen Beschluß 
über Versetzung in Anklagestand. Nur läßt das Deutsche Gesetz durch denselben 
unter allen Umständen auch die Voruntersuchung ersetzen, während die Oesterr. es 
nicht nur gestattet, daß die Voruntersuchung nach Bedarf wieder eröffnet werde, son- 
dern selbst die Nothwendigkeit der Einleitung einer Voruntersuchung, wo eine solche 
noch nicht geführt und nach der Natur der strafbaren Handlung obligat ist, an- 
erkennt. Wo die Voruntersuchung wieder ausgenommen wird, oder eröffnet werden 
muß, können allerdings neue Weiterungen (die das Deutsche Gesetz mit kühnerem 
aber prompteren Griffe abschnitt), freilich aber auch Verhältnisse eintreten, welche 
das spätere Verfahren vereinfachen. Wo die Sache nicht in das Stadium der Vor- 
untersuchung zurücktritt, gelangt sie in Oestexreich auf Grund der ursprünglichen An- 
klage und des Inkompetenzausspruches in die neue Hauptverhandlung. Ferner ermöglicht 
das Oesterr. Gesetz die sofortige Anrufung desjenigen Gerichtes, welches über die 
streitig gewordene rechtliche Beschaffenheit der That in letzter Instanz zu urtheilen 
haben wird, und da die Lösung, welche dieses Gericht der Rechtsfrage giebt, in dieser 
Sache fortan bindend ist, so ist weiteren Schwankungen möglichst vorgebeugt. 
Die Bestimmung des Deutschen Gesetzes in Verbindung mit manchen 
Aeußerungen der Motive und der aus der Berathung des Entwurfes Theil- 
nehmenden hat vielfache Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen (vgl. Voitus, 
Kontroversen, I. S. 310 ff.), die unmöglich lediglich auf Grund einzelner der 
dabei und im Gesetze gebrauchten Ausdrücke ausgetragen werden können. Es 
kommt wesentlich auf die Natur der dem Gericht gestellten prozessualen Aufgaben 
an. Man muß dabei von folgenden Sätzen ausgehen: Das Gericht hat die ihm 
vorliegende Anklage durch allseitige Würdigung der den Gegenstand derselben 
bildenden That zu erledigen, sofern ihm nicht ein unüberwindliches Hinderniß ent- 
gegentritt. Ein solches läge aber dann vor, wenn es zu der Ueberzeugung gelangt,
	        
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