Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

992 Urtheil. 
(es wäre denn, daß eigentlich nur bei der Berathung über die Erdffnung des Haupt- 
verfahrens überstimmte Richter die Kontroverse in neuer Umgebung erneuern). Gewiß 
ist ferner, daß das Gericht, welches die Hauptverhandlung abhalten soll, vor der- 
selben den Eröffnungsbeschluß nicht umstoßen kann. Aber nicht blos aus diesen 
formellen Gründen bedarf es einer Aufklärung und Erörterung der Sache in der 
Hauptverhandlung. Die Parteien haben an der Entscheidung ein großes Interesse; sie 
müssen gehört werden, und ihre Erklärungen und Anträge werden allein das Gericht 
in die Lage setzen, darüber ins Klare zu kommen, welchen Umfang die Hauptver- 
handlung gegenüber der ins Auge gefaßten Aenderung der Beurtheilung der That 
anzunehmen hat. Wenn z. B. der Angeklagte schon das ursprüngliche Fundament 
der Anklage bestreitet, wenn er glaubt, eine sofortige Freisprechung erlangen zu kön- 
nen, wäre es unbillig, daß ein Gericht sich darüber hinaussetzt, welches von der 
Sache gar nichts weiß, das nicht einmal von der Anklageschrift amtlich Kenntniß 
hat. Umgekehrt, wenn der Angeklagte fich der ursprünglichen Anklage gegenüber 
schuldig erklärt und nur dasjenige bestreitet, was derselben einen anderen Charakter 
verschaffen soll, wird es genügen, sich über die thatsächliche Voraussetzung der Ab- 
weichung von der Anklage Aufklärung zu verschaffen. Die Veranlassung einer Ver- 
handlung über die Frage der Unzuständigkeitserklärung kann eine Anregung des 
Vorsitzenden oder ein Antrag einer Partei bilden; das Gericht wird, wenn es glaubt 
eine ausreichende Grundlage für seine Beschlußfassung gewonnen zu haben, die Ver- 
handlung unterbrechen, über die Unzuständigerklärung berathen und wenn sein. Be- 
schluß dagegen ausfällt, die Fortsetzung der Hauptverhandlung mit möglichst zu- 
rückhaltender Begründung verfügen. 
2) Liegt der Ausspruch, den das Gericht vermöge seiner von der Anklage ab- 
weichenden Auffassung zu fällen beabsichtigt, innerhalb seiner Kompetenz, so bedarf 
es nichtsdestoweniger angesichts einer solchen Abweichung von der Anklage prozes- 
sualischer Vorsichtsmaßregeln, um den Parteien volles richterliches Gehör 
und Schutz gegen Ueberraschungen zu gewähren. Das Oesterreichische Gesetz (§ 262) 
beschränkt sich darauf, zu verfügen, daß der Gerichtshof ein solches U. nur fällen 
könne, „nachdem er die Parteien darüber gehört und über einen allfälligen Ver- 
tagungsantrag entschieden hat". Der § 264 der Deutschen StrasP O. faßt in erster 
Linie dabei den Angeklagten ins Auge, ordnet an, daß sowol gegenüber einer mög- 
lichen „Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes“ als bezüglich neu hervortretender, 
die Strafbarkeit erhöhender Umstände eine ausdrückliche „Hinweisung“ erfolgen und 
ihm „Gelegenheit zur Vertheidigung gegeben werden müsse“. Gegenüber von „Um- 
ständen, welche die Anwendung eines strengeren Strafgesetzes zulassen“, ist ihm ein 
kategorisches Recht auf Aussetzung der Hauptverhandlung eingeräumt, sofern er „unter 
der Behauptung, auf die Vertheidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu her- 
vorgetretene Umstände“ bestreitet. Dieses unbedingte Recht des Angeklagten kann 
eine schwierige Lage bereiten, wenn die strengere Beurtheilung wol angeregt, aber 
ihre Aneignung durch das Gericht sehr unwahrscheinlich ist. Bei der Ulfällung 
durch Richterkollegien steht aber gewiß nichts im Wege, daß das Gericht den Be- 
schluß über den Vertagungsantrag aussetze und daß derselbe als erledigt zu betrachten 
ist, wenn von der strengeren Beurtheilung im Endurtheil Umgang genommen wird. 
— Andererseits ist auch die Staatsanwaltschaft zu hören und berechtigt, Aussetzung 
der Verhandlung zu beantragen, deren Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit aber das 
Gericht frei beurtheilt; ebenso wie bei einem Antrage auf Aussetzung der Verhand- 
lung, den der Angeklagte unter Umständen stellt, wo er ein Recht darauf nicht hat. 
3) Die wichtigste Beschränkung zulässiger Abweichungen des U. von der Anklage 
begründet aber die Forderung der Identität der beiden zu Grunde liegenden 
That. „Gegenstand der Urtheilsfällung ist die in der Anklage bezeichnete That,“ 
sagt § 263 der Deutschen StrafP# O., allerdings mit dem in Vorstehendem beleuchteten 
Zusatze: „wie sich dieselbe nach dem Ergebnisse der Hauptverhandlung darstellt.“
	        
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