Urtheil. 993
Die Oesterr. Strafp O. verfügt 8 267: „An die Anträge des Anklägers ist der
Gerichtshof iur insoweit gebunden, daß er den Angeklagten nicht einer That schuldig
erklären kann, auf welche die Anklage weder ursprünglich gerichtet, noch während
der Hauptverhandlung ausgedehnt wurde.“ Beide Gesetze legen hier allerdings den
Ton auf „That“ (das materielle Faktum) im Gegensatz zu der juristisch beurtheilten
That, der strafbaren Handlung. Damit ist die Bedeutung der Anklage für den
heutigen Strafprozeß in Uebereinstimmung mit der Ausführung unter II. gekenn-
zeichnet: als die Anrufung der richterlichen Prüfung und Entscheidung bezüglich
eines bestimmten Vorganges eines bestimmten Menschen; allein es muß doch stets
dieselbe That Gegenstand der Anklage wie der Aburtheilung sein. So unbestreit-
bar und unbestritten der Satz ist, so schwierig ist seine Durchführung, die Abgrenzung
zwischen der verschiedenen Beurtheilung derselben und der Substituirung einer
anderen That. Der scheinbar nächstliegende Gedanke wäre: zwar eine abweichende
juristische Beurtheilung, aber nicht die Annahme anderer Thatsachen zu gestatten.
Allein die Anklage hat zwar eine bestimmte That vor Augen, sie kann diese aber
in prozessualisch verwerthbarer Weise nicht anders als in der Unterordnung unter
einen bestimmten Deliktsbegriff beschreiben, und so ist die Annahme einer anderen
Oualifikation im Urtheil gar nicht denkbar, ohne daß auch der Sachverhalt anders
festgestellt wird, als wie er in der Anklage behauptet wurde. Die einfachste und
unbedenklichste Modifikation ist dann freilich diejenige, bei welcher nur einzelne, in
der Anklage behauptete Umstände in Wegfall kommen, gewissermaßen ausgestrichen
werden. Wollte man aber an dieser Grenze stehen bleiben, so würden zahlreiche, objektiv
nicht gerechtfertigte Freisprechungen eintreten müssen, blos weil der wahre Sachverhalt
zur Zeit der Anklage nicht bekannt war, oder auch nur die Auffassung des Gerichtes
nicht vorhergesehen wurde. Andererseits aber würde, wenn jede solche Abweichung der
Anklage wegen Mangels der Identität der in ihr bezeichneten und der ins U. aufzu-
nehmenden That ausgeschlossen wird, eben dieser Mangel der Identität es rechtfertigen,
daß die Anklage in der Fassung erneuert wird, wie sie das Gericht in seinem U. fest-
gestellt hätte, wäre ihm das gestattet gewesen. Das würde aber den Angeklagten in
die Lage bringen, statt eines Prozesses mehrere, in vielleicht unabsehbarer Reihe über
sich ergehen zu lassen, möglicherweise auch dahin führen, daß das Gericht, welches
über die erneute Anklage urtheilen soll, wieder von einer anderen Auffassung geleitet
wird, und so würden endlose Verwickelungen entstehen und es würde die Gefahr
immer größer, daß Wahrheit und Recht einer bloßen Form zum Opfer fielen.
Eben darum darf man die Frage nach der Identität des Gegenstandes der Anklage
und des Urtheils nicht nach anderen als den Gesichtspunkten beurtheilen, welche aus
der zu lösenden prozessualen Aufgabe sich ergeben. So aufgefaßt, hat das U. die
den Gegenstand der Anklage bildende That einer erschöpfenden Prüfung zu unter-
stellen, aber auch einer endgültigen, jeden aus ihr irgend abzuleitenden strafrechtlichen
Anspruch konfumirenden. Ohne in Einzelheiten eingehen zu können, welche sonst in
sehr großem Umfange erörtert werden müßten, glaube ich folgende Grundregeln auf-
stellen zu können: 1) Der Richter hat alle ihm durch die Anklage vorgelegten That-
umstände, sie seien nun ausdrücklich erwähnt oder unausgedrückt von der Anklage
ihrem Sinne nach mit umfaßt, nach Bestand und rechtlicher Bedeutung zu prüfen;
keinen dieser Umstände darf das Urtheil als möglichen Bestandtheil oder ausschließ-
lichen Gegenstand einer neuen Anklage unerledigt zurücklassen. 2) Er hat aber
auch alle diejenigen Thatumstände hervorzuziehen, die entweder die Vertheidigung
geltend macht, oder welche aus der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ihm
entgegentreten, und deren Nichtberücksichtigung bewirken würde, daß sein Ausspruch
über die unter 1) erwähnten Thatumstände ein in thatsächlicher oder rechtlicher
Hinsicht unrichtiger wäre, gleichviel übrigens, ob diese Unrichtigkeit dem An-
geklagten zu statten käme oder nicht. 3) Dagegen hat er alle diejenigen That-
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 63