1114 Verwaltungsjurisdittion, Verwaltungsjsustiz.
ohne diese Achtung vor der eigenen Vergangenheit vermag kein Volk zum innern
Weiterbau seiner Verfassung zu gelangen.
Der Deutsche Staat war niemals Despotie, sondern Rechtsstaat in
jedem Menschenalter. In der Kleinheit seiner Gebilde, in dem verworrenen Ver-
hältniß zwischen Reich und Territorien, war der Schutz unserer Gerichte oft un-
genügend; grundsätzlich versagt war er nie, auch nicht in der Höhezeit des Abso-
lutismus. Das Deutsche Gerichtswesen gewährte von jeher einen soliden Schutz des
Privatrechts und gleiche Handhabung des Strafrechts, zuverlässiger als das ältere
Gerichtswesen in England und Frankreich. Indirekt dienen die Gerichte aber
auch zur Entscheidung der streitigen Fragen des öffentlichen Rechts, indem sie selbst-
ständig über dessen Auslegung entscheiden, wo solche zum Obersatz einer civil- oder
strafrechtlichen Entscheidung wird. Kaum irgendwo ging ihre Zuständigkeit weiter.
Die Entscheidung der Gerichte über alle Privatrechtstitel im öffentlichen Recht bei-
spielsweise ist dem Englischen wie dem Französischen Recht fremd. Die polizeilichen
Ordnungsstrafen überweist das Englische Recht in der Regel nicht den Gerichten,
sondern der V. Die civil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten ist in
den meisten Rechten enger gestellt als bei uns; eine Haftung des Staats für seine
Beamten ist anderen Rechten unbekannt. Die Meinung, daß der moderne Staat
die Kompetenz der Gerichte überhaupt beschränkt habe, beruht nur auf privatrecht-
lichen Anschauungen vom öffentlichen Recht.
Wenn daher von Gerichten und Gerichtsverfahren über die Grenzen von Privat-
und Strafrecht hinaus die Rede ist, so handelt es sich um neue Schöpfungen,
um Erweiterungen der Rechtsprechung im Verwaltungsrecht, welche ebenso neu sind
wie die Entwickelung des modernen Staats selber. Gerade seit Entstehung der
konstitutionellen Verfassungen zeigt sich in Deutschland das Gefühl eines
Mangels in dem Verwaltungsorganismus, sobald der agitirende Einfluß gesellschaft-
licher Klasseninteressen und Parteileidenschaften sichtbar wird. Es bereitete sich langsam
ein Verständniß dafür vor, daß wir bei der eifrigen Nachahmung Englischer und
Französischer Vorbilder etwas Wesentliches vergessen hatten, was der Englischen
Parlamentsregierung ihren rechtlichen und sittlichen Halt giebt, und dafür etwas
ausgenommen hatten, was dem romanischen Geist angehört, dem Geist einer rücksichts-
losen Unterordnung des individuellen Rechtskreises unter die Forderungen des sog.
öffentlichen Wohls. Und nachdem seit 1848 die konstitutionelle Regierungsweise in
den beiden Deutschen Groß staaten Eingang gefunden hatte, unter dem heftigen
Streit mächtiger Gesellschaftsklassen und Parteien, nicht mehr gemäßigt durch eine
über dem Einzelstaat stehende Bundesgewalt: da trat der direkte Mißbrauch der
obrigkeitlichen Gewalt zu Parteizwecken in akuter Gestalt auf, und zwar (wenn wir
die Tagespresse, die Verhandlungen der Kammern und der Petitionskommissionen
übersehen) auf denselben Gebieten, auf welchen in England seit zwei Jahrhunderten,
in Frankreich seit zwei Menschenaltern ein spezifisches Bedürfniß der Befestigung des
Verwaltungsrechts hervorgetreten ist.
Das eerste Gebiet der konstitutionellen Verwaltungsmißbräuche bildet die Polizei
in weitestem Sinne des Worts, — jenes weitschichtige Gebiet der Sicherheits-
und Wohlfahrtspolizei mit seinen zahllosen Beschränkungen der Freiheit der Person
und des Vermögens im Interesse des öffentlichen Wohls. Ein Theil des Polizei-
rechtes, aber doch nur ein Theil desselben, ließ sich als Thatbestand einer Polizei-
übertretung gestalten und als solche einer Handhabung durch die ordentlichen Gerichte
überweisen. Für die Polizeiverwaltungsgesetze im engeren Sinne dagegen, wie
sie durch Polizeiverfügungen, Resolute und Konzessionen der Behörden sich gestalten,
häuften sich alsbald Beschwerden über Parteimißbrauch der obrigkeitlichen Gewalt in
schlimmster Gestalt.
In dem zweiten Gebiet, der Finanzverwaltung, schienen zwar die
direkten und indirekten Gerichtskontrolen in der Hauptsache auszureichen; für das