Verwaltungsjurisdiktion, Verwaltungsjustiz. 1117
Günstiger als in den Mittelstaaten lagen anscheinend die Verhältnisse des
Oesterreichischen Kaiserstaates. Von jeher waren in den Oesterreichischen.
Erblanden die Vorbedingungen zur vollen Entwickelung eines Staatsorganismus
stärker vorhanden als in den Herrschaftsgebieten der Kurfürsten, Prälaten und Städte
des „Reichs“. Daher auch die frühzeitige und kräftige Formation eines Staats-
raths. Allein der Durchbildung eines einheitlichen Verwaltungsrechts und Be-
hördensystems standen hier die zahlreichen, einander widerstrebenden Nationalitäten
entgegen, welche in der konstitutionellen Staatsverfassung ein weit höheres Maß von
Selbständigkeit der einzelnen Glieder beanspruchen, als mit der einheitlichen Durch-
bildung der administrativen und Rechtskontrolen der Staatsverwaltung vereinbar.
Es kehrten daher dieselben Hindernisse zurück, welche in dem ehemaligen Deutschen
Reich eine festere Unterordnung der Landesbehörden unter die Reichsbehörden
(Reichsgerichte) und den Aufbau der Rechtskontrolen von unten herauf unmöglich
machten. Man mußte sich deshalb in Oesterreich auf einen centralen Gerichtshof
zu einer revisio in jure der streitigen Fragen der Gesetzauslegung beschränken,
der immerhin von Werth für eine Stabilität der Verwaltungsgrundsätze erscheint,
aber sehr geringen Schutz gegen tendenziöse Parteiverwaltung der Orts= und Pro-
vinzialbehörden bietet. Es bleibt hier dem Ermessen des Gerichtshofes überlassen,
ob das Interesse des Privaten an der behaupteten, irrigen Auslegung des Ver-
waltungsgesetzes relevant genug ist, um als Verletzung einer „öffentlichrechtlichen.
Befugniß“ gelten zu können.
Eine volle Grundlegung der Verwaltungsjustiz hat sich in den großen,
einheitlichen Verhältnissen des Preußischen Staates (bzw. des Deutschen Reichs) her-
gestellt durch den Anschluß an das historische System der Verwaltungsbeschwerden,
wie solche in dem Art. Beschwerde (verwaltungsrechtliche) ausführlich dargelegt
ist. Der Zweck der Reform war hier von Hause nur eine Verstärkung der Be-
schwerdeinstanz in denjenigen bestimmten Gebieten, in denen die Tendenz einer
parteimäßigen Verwaltung im konstitutionellen Staat sich geltend macht: nicht aber
die Aufstellung eines öffentlichrechtlichen Aktionenrechts. Man hat hier von vorn-
herein darauf verzichtet durch Verwaltungsklagen des Einzelnen ein jedes Unrecht der
Verwaltung hindern zu wollen; denn es würden hundertfältig gestaltete Klagrechte
das tausendfältige Unrecht nicht hindern, welches täglich von den Organen der Orts-
und Bezirksverwaltung aus Parteiinteressen begangen werden kann. Diese V. tritt
vielmehr als organisches Glied in die bestehende Verwaltungsordnung, welche
zum Schutz des Ganzen und des Einzelnen mit zahlreichen Kontrolen bereits um-
geben ist, von denen die Verwaltungsrechtsprechung nur ein eng begrenztes Glied
bilden kann. Nicht als Klagschutz von Einzelrechten, sondern als ein Glied jenes
Kontrolsystems ist diese Gesetzgebung zu verstehen und zu würdigen, und nur im
Zusammenhang der gegenseitigen Kontrolen im Deutschen Verwaltungssystem wird
die Lücke erkennbar, in welcher die neue V. ihren Platz gefunden hat.
Das Kontrolsystem ist mit nicht sehr erheblichen Abweichungen in den meisten
neueren Kulturstaaten in folgender Gliederung administrativer, parlamen-
tarischer u. Rechtskontrolen gegeben (Gneist, Justiz, Verwaltung 2c., 1869):
I. Die administrativen Kontrolen der Staatsverwaltung sind
dazu bestimmt, die gesetzmäßige und einheitliche Ausführung des Staatswillens im
Interesse der Gesammtheit zu sichern, und zwar in dreifacher Richtung:
1) Die (dienstliche) Disziplinaraufsicht erzwingt den Gehorsam des
Beamten gegen das Gesetz und die gesetzmäßigen Befehle seines Vorgesetzten durch
Entlassung und Ordnungsstrafen. Alle übrigen europäischen Verwaltungssysteme be-
ruhen auf der schrankenlosen Entlaßbarkeit aller Verwaltungsbeamten aller Stufen,
und erhalten damit die Einheit der Exekutive in einfachster Weise. Nur das
Deutsche System hat die lebenslänglich gesicherte Stellung der etatsmäßigen Be-
amten zur Regel erhoben, um einen rechtschaffenen und zuverlässigen Beamtenstand