Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

Verwaltungsjurisdittion, Verwaltungsjustiz. 1123 
tungsrechtsprechung in dem Behördensystem jederzeit festgehalten. Wie war es aber 
möglich, einem Verwaltungspersonal, welches nach dem System der administrativen 
Kontrole stets entlaßbar und einer disziplinaren Gewalt unterworfen bleiben muß, 
die richterliche Unabhängigkeit zu geben? Wie war es möglich unter einer „kon- 
stitutionellen“ Regierung, die stets als eine Parteiregierung angesehen wird, darum 
aber nicht weniger die Subordination aller unteren Organe beansprucht? Das Be- 
dürfniß der heutigen Verwaltung verlangt weit mehr noch als die ältere eine be- 
weglichere Handhabung durch Einzelbeamte. Der entlaßbare Einzelbeamte kann in 
dieser Stellung wiederum nicht unparteiischer Richter über streitige Fragen des Ver- 
waltungsrechts sein. Diese widersprechenden Anforderungen eben erzeugen den zwei- 
deutigen Charakter des konstitutionellen Beamtenthums, welches auf dem Kontinent 
wie in den Amerikanischen Freistaaten nur mit der Korruption des Beamtenthums 
enden kann. — Es giebt in der That nur eine Lösung für das Problem, dem ent- 
laßbaren Verwaltungsbeamten die Unabhängigkeit des Richteramtes und mehr als 
das wiederzugeben: es ist das obrigkeitliche Ehrenamt, welches die besitzenden Klassen 
und Mittelstände in den Dienst der Rechtsprechung des Staates hineinzieht. Dies 
ist die wirkliche Bedeutung des an England so viel bewunderten und so wenig ver- 
standenen Selfgovernment. Mittels des Ehrenamts, in seiner unmittelbaren Ueber- 
ordnung über die exekutiven Polizeibeamfen, stellt sich schon in erster Instanz ein 
obrigkeitliches Amt in richterlicher Unabhängigkeit her. Dies gesellschaftlich unab- 
hängige Beamtenthum, für welches nach den Erfahrungen jedes Menschenalters eine 
parteimäßige Ernennung und Entlassung unmöglich ist, ordnet sich dann dem 
Berufsbeamtenthum zur Seite, giebt ihm auch im konstitutionell verwalteten Staat 
den gesellschaftlichen Halt wieder, und bildet das Gegengewicht für alle Fragen, 
welche eine konstitutionelle Präfektenverwaltung unabänderlich zu Partei= und Wahl- 
beeinflussungsfragen macht. · 
III. Der Instanzenzug der Verwaltungsjustiz endlich schließt sich 
nochmals in historischer Kontinuität dem Behördensystem und der Natur der Ver— 
waltungsbeschwerden an. Die Nachprüfung eines obrigkeitlichen Dekrets ist keine ab- 
strakte, rein logische Frage der Gesetzinterpretation, sondern bis zu einem gewissen 
Grade untrennbar von den thatsächlichen Voraussetzungen des obrigkeitlichen Akts. 
Jene rechtliche Prüfung würde zum inhaltlosen Formalismus, wenn es der Behörde 
freistände, das Verwaltungsgesetz auf ein fingirtes Sachverhältniß, oder in buchstäb- 
licher Auslegung das Gesetz auf Fälle anzuwenden, für die es dem Sinne nach 
nicht gemeint ist. Die rechtliche Prüfung muß also das Thatsächliche soweit um- 
fassen, um vexatorische, chikanöse Akte der Obrigkeit zu treffen, die ohne das Vor- 
handensein der vom Gesetz gemeinten objektiven Merkmale, das obrigkeitliche Amt 
aus Gunst, Feindschaft oder Parteilichkeit in fraudem legis handhaben. Diese Un- 
trennbarkeit der Gesetzesauslegung von der gquestion of fact — die schwierigen 
Grenzen zwischen Ungesetzmäßigkeit und Unsachmäßigkeit — die zahllosen Ab- 
stufungen der diskretionären Gewalt der Behörden — machen es nothwendig, die 
W“xqov0· von unten herauf in Zusammenhang mit der rechtsprechenden zu 
alten. 
In erster Instanz ist deshalb der Kreisausschuß so formirt, daß ein 
zahlreiches Schöffenelement (Laienelement) die thatsächlichen Voraussetzungen der 
Verwaltungsverfügung aus örtlicher Nachbarschaft und Personenkenntniß zu beur- 
theilen vorzugsweise geeignet erscheint; während der vorsitzende Landrath in seiner 
freieren Stellung als geschäftliche Aufsichtsinstanz auch Abhülfe gewähren kann, wo 
(namentlich in Polizeisachen) die Grenze zwischen Gesetzwidrigkeit und Unsachgemäß- 
heit oft kaum zu finden ist. Wie in der ordentlichen Rechtspflege ist diese erste In- 
stanz die für den bürgerlichen Verkehr maßgebende, neben welcher die höheren In- 
stanzen als Regulatoren der Prinzipfragen um etwas zurücktreten. 
717
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.