Wahlgesetze. 1215
Sonach war vor dem Jahre 1848 die aktive Wahlfähigkeit regelmäßig nicht
blos von dem Besitz des Staatsbürgerrechts, sondern überdies noch von der Zugehörigkeit
zu einer der verschiedenen Wählerklassen abhängig, und in allen Deutschen Ländern
war ein großer Theil der Staatsangehörigen, nämlich die nicht im Besitze des
Bürgerrechts befindlichen Stadtbewohner und die nicht grundbesitzende Landbevölkerung,
sowie regelmäßig alle Nichtchristen von der aktiven Wahlfähigkeit ausgeschlossen.
Das Jahr 1848 war für die Weiterentwickelung der Deutschen W. von größter
Bedeutung: die demokratischen Träger der politischen Bewegung dieses Jahres for-
derten das allgemeine Stimmrecht und waren wenigstens vorübergehend im Stande,
ihre Forderung durchzusetzen. Seiner Idee nach sollte das allgemeine Wahlrecht
die aktive Wahlfähigkeit aller willensfähigen Personen bedeuten; doch ist in keinem
Gesetze, welche das allgemeine und gleiche Wahlrecht dem Volke zusprach, diese Idee
zu vollkommener Erscheinung gebracht worden. Vielmehr hat man sowol in dem
Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 als auch in den diesem nachgebildeten oder
doch unter denselben Einflüssen entstandenen W. der einzelnen Länder an der aus-
schließlichen Wahlberechtigung der Männer festgehalten. Ferner ist Allen, welche
das 25. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, endlich Denen, welche nicht voll-
kommen selbständig sind, wie den in väterlicher Gewalt, unter Kuratel oder in Kost
und Lohn eines Anderen stehenden Personen regelmäßig die aktive Wahlfähigkeit
vorenthalten worden. Endlich ist überall den Bescholtenen, welche wegen eines ent-
ehrenden Verbrechens bestraft oder wegen eines solchen angeklagt und noch nicht
freigesprochen worden sind, und den im Konkurs Befindlichen, sowie hin und wieder
den wegen versuchter oder verübter Wahlbestechung Verurtheilten die Wahlberechtigung
entzogen.
Nachdem die Bewegung des Jahres 1848 niedergeworfen worden war, sind
auch die unter ihrer Einwirkung zur Entstehung gekommenen W. der einzelnen
Länder wenigstens theilweise wieder unpraktisch geworden. Aber dennoch hat man
sich in mehreren Deutschen Staaten des Zweikammersystems von der Bildung der
zweiten Kammern nach Standes-, Vermögens= oder Berufsklassen dauernd abgewendet
und den zweiten Kammern die Aufgabe zugesprochen, das gesammte Volk als eine
einzige und einheitliche, durch Beruf, Stand, Vermögen nicht getrennte Masse zur
Erscheinung zu bringen. Um jedoch den Staat vor den möglicherweise gefährlichen
Folgen dieser neuen Zusammensetzung der Volksrepräsentation zu schützen, hat man
sich entweder zu einer Beschränkung der aktiven Wahlfähigkeit oder zu anderen
Modifikationen des aus dem Jahre 1848 überkommenen allgemeinen Wahlrechts
entschlossen. So haben manche W. die aktive Wahlfähigkeit schlechthin nur den zu
den Gemeindewahlen ihres Wohnorts Berechtigten zugesprochen und überdies gefor-
dert, daß der Wähler irgend eine direkte Staatssteuer zu zahlen habe, auch mit
derselben nicht im Rückstande sei. Andere W., z. B. das Preußische, haben die
aktive Wahlfähigkeit allen Staatsangehörigen zugesprochen, welche das in den ein-
zelnen W. vorgeschriebene Alter — meistens 25 Jahre — erreicht haben, voll-
kommen selbständig sind, also insbesondere sich nicht unter einer Vormundschaft be-
finden, im Vollbefitz der bürgerlichen Rechte sind und überdies einen gewissen Zeit-
raum hindurch in der Gemeinde sich aufgehalten haben, in welcher sie von ihrem
Wahlrecht Gebrauch machen wollen. Um aber dem ausschlaggebenden Gewicht der
bloßen Kopfzahl vorzubeugen, hat die Preußische Verordn. vom 30. Mai 1849 alle
Wähler in drei nach der Höhe ihrer Steuerzahlungen bestimmte Klassen eingetheilt,
die indirekte Wahl eingeführt und jeder der drei Wählerklassen die gleiche Zahl von
Wahlmännern zugewiesen.
Neuerdings ist man bei Begründung des Norddeutschen Bundes auf das gleiche
Wahlrecht Aller zurückgekommen. Schon der Bildung des konstituirenden Reichs-
tags war das Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 freilich unter mannigfachen,
von den Landtagen der einzelnen Länder beschlossenen Modifikationen zu Grunde