852 Taubstummheit.
Jahren zu diesem Gebrechen gelangt waren, davon abhängig, ob sie sich durch all-
gemein verständliche Zeichen ausdrücken konnten oder nicht. Die Schreibenskenntniß
war sonach nicht das alleinige Kriterium für die Entbehrlichkeit der Bevormundung.
Die Fortschritte der Wissenschaft in der Behandlung taubstummer Personen führten zu
einer Aenderung dieser Vorschriften. Die Vormundschaftsordn. v. 5. Juli 1875 be-
stimmt im § 81 ganz allgemein, daß Taubstumme einen Vormund erhalten sollen,
sofern sie durch das Gebrechen an der Besorgung ihrer Rechtsangelegenheiten gehindert
werden. Sie legt sonach die Prüfung der Nothwendigkeit einer Vormundsbestellung
dem Vormundschaftsrichter auf und sieht davon ab, die Schreibenskunde als das
entscheidende Merkmal aufzustellen. Ihre Stellung unter Vormundschaft wird für
die weiteren Rechtsverhältnisse von Erheblichkeit. Von ihr macht das Allg. LR.
ihre Handlungs= und Vertragsfähigkeit abhängig und stellt sie den Unmündigen
gleich (5 25 I. 5). Aber auch für die nicht bevormundeten trifft es Fürsorge, um
sie vor Uebervortheilungen zu bewahren und einen Mißbrauch ihres Gebrechens
seitens Dritter auszuschließen, und ordnet deshalb an, daß sie die von ihnen zu
errichtenden schriftlichen Verträge nur gerichtlich schließen dürfen (§ 171 l. c.).
Auch ihre Prozeßfähigkeit hängt nach der RO. von ihrer Stellung unter
Vormundschaft ab. Der Vormund ist ihr gesetzlicher Vertreter. Ist ihnen ein
solcher nicht bestellt, so hindert ihr Gebrechen sie nicht, ihre Rechte im Prozesse selbst
wahrzunehmen, wobei zu einer Verhandlung mit ihnen, sobald sie des Schreibens nicht
kundig sind, die Zuziehung eines Dolmetschers erforderlich ist, der ihren Willen zu
erforschen hat (GVG. 5 188). Das Gleiche gilt, wenn sie als Zeuge vernommen werden
sollen. Die Eidesleistung ist eine andere, je nachdem sie schreiben können oder nicht.
Im ersteren Falle leisten sie den Eid mittels Abschreibens und Unterschreibens der
die Eidesnorm enthaltenden Eidesformel und zwar selbst dann, wenn sie nothdürftig,
aber nicht geläufig zu sprechen vermögen; im andern mit Hülfe eines Dolmetschers
durch Zeichen. In Oesterreich soll nach dem Just. Min. Erl. vom 23. September
1850 die Vereidigung in der Weise erfolgen, daß dem des Schreibens kundigen
Taubstummen die Eidesformel zum Durchlesen gegeben und von ihm unterschrieben
wird. Anderenfalls soll ein Dolmetscher zugezogen werden, und muß die Vereidigung
unterbleiben, wenn sich dieser mit ihm nicht verständigen kann.
Anders ist ihre Stellung im Strafrecht. Aus der Begehung einer Hand-
lung, welche objektiv alle Thatbestandsmerkmale einer vom Gesetz mit Strafe bedrohten
Handlung enthält, folgt noch nicht ihre Strafbarkeit. Erst der Hinzutritt der straf-
rechtlichen Zurechnungsfähigkeit und Strafreife des Thäters rechtfertigt die Anwendung
des Strafgesetzes. Das Vorhandensein dieses subjektiven Momentes hat der Straf-
richter zu prüfen. Da nun der Zusammenhang des Gebrechens der T. mit der
geistigen Entwickelung Zweifel über den Stand der letzteren wach zu rufen geeignet
ist, Zweifel, welche auch durch die Entscheidung des Vormundschaftsrichters über
die Nothwendigkeit der Stellung unter Vormundschaft nicht in maßgebender Weise
gelöst werden, insbesondere auch die Vorschrift des Civilrechts, daß bevormundete
Taubstumme den Unmündigen gleichgestellt werden, ohne Einfluß bleibt, liegt in
jedem Falle dem Richter die Prüfung ob darüber, ob der Taubstumme mit der zur
Erkenntniß der Strafbarkeit seiner Handlung erforderlichen Einsicht gehandelt hat.
Es soll also derselbe ebenso behandelt werden, wie derjenige Angeschuldigte, welcher
das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, jedoch mit dem Unterschiede, daß ihn
im Bejahungsfalle die volle Strafe trifft, verneinendenfalls aber nicht sowol seine
Ueberweisung an die Familie oder in eine Besserungsanstalt, sondern seine Frei-
sprechung zu erfolgen hat, und daß auch die Zuständigkeit des Schwurgerichts ihm
gegenüber nicht ausgeschlossen ist (GV G. § 73, Nr. 3). Dieser Stellung entsprechend
bestimmt auch die StrafP O. ausdrücklich, daß bei einer Verhandlung vor dem
Schwurgericht in jedem Falle den Geschworenen die Frage nach der Zurechnungs-
fähigkeit des Angeklagten zur Beantwortung vorgelegt werden muß, eine Frage, die