Zurechnungsfähigkeit. 1457
des Richters. Der Gerichtsarzt liefert einfach Beweismittel zur Klärung der That-
frage, die sich der Richter allein nicht zu verschaffen vermag. Sein Gutachten ist
ein Theil des Beweises. Selbstverständlich muß ihm alles Material für die Lösung
seiner Aufgabe vom Richter zur Verfügung gestellt und genügende Zeit und passende
Lokalität (bei schwierigeren Fällen immer Krankenhaus oder Irrenanstalt, nicht
Gefängniß) zur Untersuchung geboten sein. Sein Mandat erhält der Sachverständige
vom Richter. Dasselbe enthält zugleich Zweck und Gegenstand der Untersuchung
sowie die Fragestellung. Diese auf das Vorhandensein der Z. lauten zu lassen, ist
zu tadeln, sie ist ein juristischer und kein medizinischer Begriff. Als Sachverständiger
sollte nur Der berufen werden, der wirklich medizinisch-psychologische Bildung und
psychiatrische Erfahrung besitzt. Bei der Vernachlässigung dieser Studien auf den
Universitäten besitzt leider nicht jeder Arzt diese Oualifikation. Das Resultat seiner
Untersuchung legt der Sachverständige im Gutachten nieder.
Die Bestandtheile des Gutachtens müssen bilden: 1) die genaue Darstellung
des gesammten körperlichen und geistigen Vorlebens; 2) die Darlegung des geistigen
und körperlichen Zustandes zur Zeit der That und nach derselben; 3) die Begründung
des etwa vorgefundenen abnormen geistigen Zustandes als eines krankhaften.
Von einem Gutachten ist zu verlangen, daß es klar, umfassend, von metaphysischen
Spekulationen und psychologisirenden Deduktionen frei, in allgemein verständlicher
Sprache abgefaßt sei. Nur sein innerer Werth, seine überzeugende Kraft verschaffen
ihm Gültigkeit in foro; denn der Richter ist an das sachverständige Gutachten nicht
gebunden. Er kann es verwerfen, sobald er Zweifel in die Glaubwürdigkeit des
Sachverständigen hegt, in dessen parere er irrige Voraussetzungen des Thatbestandes,
logische Widersprüche r2c. findet. Selbstverständlich ist er aber dann verpflichtet, sich
an einen anderen Sachverständigen zu wenden.
In nicht seltenen Fällen wird ein gewissenhafter Experte sich außer Stande
sehenn in der vom Richter gewünschten Frist ein technisches Urtheil über den Geistes-
zustand eines Angeklagten sich zu bilden und zu formuliren. Mangelhafte Anamnese,
vermuthete Periodizität der Krankheitserscheinungen, Simulation und Dissimulation
können die Ursache sein. Ein einsichtsvoller Richter wird diese im Gegenstand der
Untersuchung begründeten Schwierigkeiten zu würdigen wissen und den Experten nicht
drängen. Ganz zu mißbilligen ist die Berufung des Technikers erst im Laufe der
Verhandlung und das Verlangen, sein parere im Termin ohne rechte Kenntniß der
Lebensgeschichte und Vorakten abzugeben. Aerzte, die sich dazu herbeilassen, handeln
unvorsichtig. Es ist ehrenvoller, sein parere in solchen Fällen in suspenso zu lassen
und fernere Beobachtung unter Vertagung der Verhandlung zu verlangen, als durch
ein apercu zu glänzen.
Die organischen Momente, aus welchen eine Unvollkommenheit oder Unfähigkeit,
sich selbst zu bestimmen, entstehen und wegen deren Bedeutung und Tragweite
die Zuziehung eines Sachverständigen nöthig werden kann, lassen sich übersichtlich
zusammenfassen in
I. noch nicht erfüllte Reife der geistigen und körperlichen Entwickelung eines
zur Erreichung jener Reife befähigten Individuums (kindliches Alter); II. Hemmungen
der Entwickelung und Entartungen, die das Gehirn vor erreichter Ausbildung getroffen
haben (angeborener Blöd= und Schwachsinn); III. Krankheitsprozesse, die nach
erfolgter Hirnentwickelung die psychischen Leistungen störten (Geisteskrankheiten);
IV. transitorische Störungen der psychischen Verrichtungen (Traumzustände, Fieber-
delirium, Alkoholintoxikation, transitorisches Irresein). — Zustände krankhafter
Bewußtlosigkeit.
Wir geben im Folgenden eine Besprechung der hauptsächlichen legislatorischen
und anthropologisch psychologischen Momente, die bei der Beurtheilung der Zurech-
nungsfähigkeit in diesen Zuständen in Betracht kommen.
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 92