Zurechnungsfähigkeit. 1463
Als Momente, die dem Richter Zweifel über die Geistesintegrität erwecken
müssen, sind anzuführen:
Widersinnigkeit der That und ihrer Motive, Mangel eines Vortheils für den
Thäter oder geradezu Nachtheil durch die That, Planlofigkeit, Zwecklosigkeit in der
Wahl von Mitteln, Zeit, Ort; auffallende Grausamkeit der That, Kontrastiren
derselben mit der ganzen früheren Lebensführung. Selbstanzeige, fehlende Bestre-
bungen die Spuren der That zu verwischen, sich Rühmen derselben, offenes Geständ-
niß, Selbstmordversuche vor= und nachher, Warnung der Umgebung vor der That:
auffallende Aenderung des Charakters, dumpfes Hinbrüten, Vernachlässigung des
Berufs. Auffallende Gleichgültigkeit bei Verhaftung und Verhör, Spuren von
Gereiztheit, intellektueller Schwäche in diesen. Mangelnde oder lückenhafte Er-
innerung für die That. Notorische Geisteskrankheit oder Epilepsie in der Familie
oder früher beim Angeklagten. Geringen Werth hat die Leumundsfrage, da ein
lasterhaftes, vagabundirendes Leben oft auf Geistesstörung beruht und statt dieser
oft für Bosheit und Immoralität genommen wird.
Die Möglichkeit einer Geisteskrankheit schließen Reue, Motivirtheit der That,
kluge Berechnung der Umstände, Planmäßigkeit der Ausführung, Vernünftigsprechen
durchaus nicht aus. Bei einer Besprechung der einzelnen Formen des Frreseins
haben wir zunächst zu gedenken der
1) Melancholie. Mit ihr beginnt in der Mehrzahl der Fälle das Irresein.
Ihr Wesen ist eine äußerlich gar nicht oder ungenügend motivirte schmerzliche Ver-
stimmung als Ausdruck einer krankhaften Störung der Hirnthätigkeit. Der von ihr
Befallene fühlt sich traurig ohne Grund, bange, muthlos, von trüben Gedanken,
Sorgen und Zweifeln gequält. Er fühlt sich selbst und alle seine Beziehungen zur
Außenwelt verändert, er ist gleichgültig gegen seine Lebensinteressen, seine gewohnte
Thätigkeit fällt ihm schwer bis zur Unmöglichkeit. Sein Gedankenfluß ist gehemmt,
es können einzelne peinliche Vorstellungen sich beständig dem Bewußtsein aufdrängen
(Zwangsvorstellungen) und dasselbe aufs Höchste beunruhigen. Im Verlauf kann
es zu Sinnestäuschungen, Wahnideen kommen, namentlich aber zu Anfällen heftiger
bis zur Trübung und Aufhebung des Selbstbewußtseins sich steigender Seelenangst,
die dann in der Regel in der Herzgegend lokalisirt wird.
Solche Anfälle (raptus melancholicus) finden sich auch bei Hypochondern,
Epileptischen, Hysterischen und Säufern, zuweilen auch bei wirklich oder scheinbar
Gesunden während der Menstruation, dem Wochenbett.
Der Melancholische kann a) aus schmerzlichen Gefühlen, b) aus Zwangs-
vorstellungen, c) auf Grund krankhafter Affekte, 0) aus Wahnideen und Sinnes-
täuschungen Gewaltthaten begehen.
Meist kommen dann äußerlich unmotivirte, dem Thäter selbst zum empfindlichen
Nachtheil gereichende Handlungen (Mord, Brandstiftung, Selbstmord) zu Stande.
Bemerkenswerth sind auch die aus krankhafter Willenshemmung (Abulie) und
schmerzlicher Verstimmung nicht selten refultirenden Unterlassungen und Pflichtver-
letzungen solcher Unglücklicher.
Da, wo schmerzliche Gefühle (des nicht mehr Könnens, trostloser Langeweile,
ganz veränderter Beziehungen zur Außenwelt) und Zwangsvorstellungen die That
motiviren, kann sie mit Planmäßigkeit, Strafbarkeitsbewußtsein, ja selbst innerem
Widerstreben vollbracht werden, aber sie ist trotzdem unfrei, der Kranke dem Zwang
seiner organisch bedingten krankhaften Gefühle und Vorstellungen erlegen.
Bemerkenswerth ist die Ernüchterung, die mit erfolgter That vielfach eintritt,
die kritische Bedeutung derselben, so daß unmittelbar nach derselben die Erscheinungen
der Krankheit schweigen.
Besonders erwähnenswerthe Handlungen, die hierher gehören, sind Verbrechen,
um dafür Strafe zu bekommen, nach der sich der Kranke sehnt, Mord Anderer, um
das unerträgliche Leben auf dem Schaffot zu verlieren (indirekter Selbstmord),