Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band II (2)

98 Reichstag. 
Ausicht ist, daß wir keine souveraine Besugniß haben, sondern daß wir der 
Zustimmunz der Regicrung bedlirfen, so scheint es mir doch im Allgemeinen 
im Interesse des Reichstags und jeder einzelnen Persönlichkeit auf demselben 
wohlgethan, um eben die Autorität des Reichstags nicht zum bloßen Re- 
gistrator herabsinken zu lassen, wovor das verehrte Mitglied gewarnt hat, 
solche Schlüsse gleich bei der Vorberathung zu fassen, um den Reichstag nicht 
in den Verdacht zu bringen, daß er schließlich einem Stirnrunzeln der Re- 
gierung nachgegeben habe. Ich meine aber, meine Herren, es liegt hier eine 
ganz andere Rücksicht vor. Wir verhandeln hler öffentlich, und vor den 
Augen von Europa. Das verehrte Mitglied hat uns gesagt, die 
Lage von Europa sei ihm in diesem Augenblicke nicht bekannt, 
obgleich er schließlich eine gewisse Schwüle dieser Lage zugegeben 
hat. Meine Herren, zu fürchten haben wir uns nicht vor Europa, 
aber ich glaube, wir wollen uns auch unfern berechtigten Einfluß 
auf Europa nicht schmölern lassen. Und daß der Einfluß der ver- 
bündeten Regierungen in allen jetzt vorliegenden Europäischen Fragen, in der 
gegenwürtigen spannenden Lage von Europa ein ganz anderer ist, wenn ihr 
eine ganz große Majorität des Reichstages zur Seite steht, als wenn 
heute Beschlüsse mit zwei Stimmen Majorität angenommen und morgen 
durch zwei Stimmen Mogjorität abgelehnt werden, das wird mir das ver- 
ehrte Mitglich doch wohl zugeben und wird daraus nicht die Schlußsolgerung 
ziehen wollen, daß wir, meine politischen Freunde und ich, debhalb zu seiner 
Meinung übergehen müßten, denn dann würden wir stat einer schwaochen 
Majorität für die Regierung, die Regierung in eine entschiedene Mi- 
norität versetzen und wir würden dann das gesährden, was er mit Recht 
in Europa zu beachten uns empsohlen hat. Ich glaube also, er hat keine 
Ursache, die Haltung des Reichstages bis jetzt zu tadeln, oder wenn er einen 
Tadel hat, so möchte ich ihn bitten, ihn auch einmal an seine eigene ver- 
ehrte Person zu richten. (Heiterkeit.) — Was den hier vorliegenden Ar- 
tikel betrisft und die dazu gestellten Auendements, so glaube ich, das 
verehrte Mitglied wird mir selbst zugeben, was ich schon Eingangs ange- 
deutet habe, daß der Antrag, den er empsohlen hat: dem Reichstage die Be- 
fugniß beizulegen, die Anwesenheit des Bundeskanzlers resp. seine 
Stellvertretung zu verlangen, von einer sehr geringen Trag- 
weite ist; ich meine, wir sollten solche — wie soll ich sagen? — 
decorative Verschönerungen des Verfassungsentwurfes im 
Interesse der großen Aufgabe dieser Versammlung, die es wahr- 
lich nicht mit süßen Aepseln, sondern mit ganzen Bäumen zu thun 
hat, lieber unterwegs lassen. Ich glaube entschieden, es ist wirklich 
nicht des Reichstags würdig anzunehmen, daß es eines quos ego 
von seiner Seite bedarf und daß erst beschlossen wer den muß, der 
Bundeskanzler solle morgen im Reichstage erscheinen; ich glaube 
der Herr Vorsitzende der Bundescommissarien hat vorhin die Sache ganz
	        
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