Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band II (2)

110 Reichslag. 
hat, es sei mit dem Budget ebenso wie mit andern Gesetzen, meiner Ansicht 
nach entschieden nicht zutrifft, und es hat mich geradezu überrascht, 
daß ein mit porlamentorischen Diugen so hervorragend vertrautes Mitglied, 
wie der Herr Abgeorduete für Osnabrücck, eine solche Parallele hat ziehen 
können. Wenn der Reichstag Gesetze beschließt, dle ihn sowohl, wie seine 
Nachfolger verbinden, so lange sie nicht auf verfassungsmößige Weise wieder 
abgeändert worden sind, so ist es mit dem Budget ein ganz andres 
Ding. Das Budget ist nicht ein Gesetz, welches cxistirt, so lange es nicht 
auf dem gesetzmäßigen Wege abgeändert wird; sondern das Budget — und 
das brauche ich doch den Vertretern des Budgetrechts nicht erst zu sagen — 
besteht immer nur für die bestimmte Zeilt, für welche es votirt ist, 
und muß immer wieder von Neuem votirt werden, wenn oder be- 
vor noch diese Zeit abgelaufen ist. Bei dem Budget handelk es sich also 
um flottante Dinge, während die Gesetzgebung sich die Dinge dauernd 
vorstellt. Das von dem geehrten Mitgliede angeführte Beispiel ist daher so 
eclatant unrichtig gewählt, daß mir das einen Schluß auf die große Schwäche 
selner Argumentation im Allgemeinen zuzulassen scheint. Wenn wir den 
Antrag gestellt haben, so meine ich, liegt ihm ganz einfach das zu Grunde, 
was auch das verehrte Mitglied für Wetzlar hervorgehoben hat. Am we- 
algsten aber liegt ihm zu Grunde, was das verehrte Mitglied für 
Oenabrück uns vorwirft: ein Mihtrauen gegen das allgemelne Wahl- 
recht; im Gegentheil, meine Herren, ich kann vielleicht verschiedene Bedenken 
gegen das allgemeine Wahlrecht haben, die jedoch in diesem Augenblicke, nach- 
dem wir gestern den Artikel 21 votirt haben, nicht mehr zur Sache gehören; 
aber die Verehrer des allgemeinen Wahlrechts sollten doch um 
so mehr dem Antrage zustimmen. Denn sie sollten zu dem Volke 
in seiner Gesammtheit, wie es in dem allgemeinen Wahlrecht sich re- 
präsentirk, das Zutrauen haben, daß es nicht in seiner Meinung beständig 
wechsell wie der Wind, daß es also auch nach Ablauf der fünf Jahre 
noch weiß, was es will, und daß es nicht vorher in jedem Augenblick 
seine Meinung äudert. Haben Sie, meine Herren, (nach links) eine geringere 
Meinung von dem Volke, ja, meine Herren, dann mußten Sie — so könnte 
ich umgekehrt argumentiren — uns nur umsomehr mil dem allgemeinen 
Wahlrecht verschonen. Ich habe in dieser Bezlehung alles mögliche Ver- 
trauen zu dem Volke; und glaube eben deshalb, daß es nicht wie der Wind 
seine Meinung immer wieder Indern wird, und deshalb muß ich mich gegen 
jenes Argument ganz enkschieden erklären. Was wir wollen, ist viel weniger 
auf die Wirkung des Wahlrechts im Volke, als auf die Selbstständig- 
keit des Reichstages selbst berechnet. Warum hat man in England 
die dreijährige Wahlperiode in eine siebenhrige verwandelt? 
Darum, meine Herren, weil man die Volksvertreter möglichst unab- 
hängig stellen wollte von Agitationen und dadurch herbeige- 
fübrten Schwankungen der Meinung, weil man verhindern wollite,
	        
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