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hat, es sei mit dem Budget ebenso wie mit andern Gesetzen, meiner Ansicht
nach entschieden nicht zutrifft, und es hat mich geradezu überrascht,
daß ein mit porlamentorischen Diugen so hervorragend vertrautes Mitglied,
wie der Herr Abgeorduete für Osnabrücck, eine solche Parallele hat ziehen
können. Wenn der Reichstag Gesetze beschließt, dle ihn sowohl, wie seine
Nachfolger verbinden, so lange sie nicht auf verfassungsmößige Weise wieder
abgeändert worden sind, so ist es mit dem Budget ein ganz andres
Ding. Das Budget ist nicht ein Gesetz, welches cxistirt, so lange es nicht
auf dem gesetzmäßigen Wege abgeändert wird; sondern das Budget — und
das brauche ich doch den Vertretern des Budgetrechts nicht erst zu sagen —
besteht immer nur für die bestimmte Zeilt, für welche es votirt ist,
und muß immer wieder von Neuem votirt werden, wenn oder be-
vor noch diese Zeit abgelaufen ist. Bei dem Budget handelk es sich also
um flottante Dinge, während die Gesetzgebung sich die Dinge dauernd
vorstellt. Das von dem geehrten Mitgliede angeführte Beispiel ist daher so
eclatant unrichtig gewählt, daß mir das einen Schluß auf die große Schwäche
selner Argumentation im Allgemeinen zuzulassen scheint. Wenn wir den
Antrag gestellt haben, so meine ich, liegt ihm ganz einfach das zu Grunde,
was auch das verehrte Mitglied für Wetzlar hervorgehoben hat. Am we-
algsten aber liegt ihm zu Grunde, was das verehrte Mitglied für
Oenabrück uns vorwirft: ein Mihtrauen gegen das allgemelne Wahl-
recht; im Gegentheil, meine Herren, ich kann vielleicht verschiedene Bedenken
gegen das allgemeine Wahlrecht haben, die jedoch in diesem Augenblicke, nach-
dem wir gestern den Artikel 21 votirt haben, nicht mehr zur Sache gehören;
aber die Verehrer des allgemeinen Wahlrechts sollten doch um
so mehr dem Antrage zustimmen. Denn sie sollten zu dem Volke
in seiner Gesammtheit, wie es in dem allgemeinen Wahlrecht sich re-
präsentirk, das Zutrauen haben, daß es nicht in seiner Meinung beständig
wechsell wie der Wind, daß es also auch nach Ablauf der fünf Jahre
noch weiß, was es will, und daß es nicht vorher in jedem Augenblick
seine Meinung äudert. Haben Sie, meine Herren, (nach links) eine geringere
Meinung von dem Volke, ja, meine Herren, dann mußten Sie — so könnte
ich umgekehrt argumentiren — uns nur umsomehr mil dem allgemeinen
Wahlrecht verschonen. Ich habe in dieser Bezlehung alles mögliche Ver-
trauen zu dem Volke; und glaube eben deshalb, daß es nicht wie der Wind
seine Meinung immer wieder Indern wird, und deshalb muß ich mich gegen
jenes Argument ganz enkschieden erklären. Was wir wollen, ist viel weniger
auf die Wirkung des Wahlrechts im Volke, als auf die Selbstständig-
keit des Reichstages selbst berechnet. Warum hat man in England
die dreijährige Wahlperiode in eine siebenhrige verwandelt?
Darum, meine Herren, weil man die Volksvertreter möglichst unab-
hängig stellen wollte von Agitationen und dadurch herbeige-
fübrten Schwankungen der Meinung, weil man verhindern wollite,