Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band II (2)

44 Neicheteg. 
sondern auch in der Gesellschaft Alles gut ist, wenn diesen allge- 
meinen politischen Rechten, wenn dieser Gleichheit des politischen Rechtes 
auch eine Gleichheit der socialen Verhältnisse bei den einzelnen Menschen ent- 
spricht, wenn alle Menschen ein gleiches Maß geistiger Bildung, socialen 
Wohlstaudes und sittlicher Charakterfeftigkelt besitzen, wenn alle Menschen 
srisch und frei und fromm und fröhlich sind, wenn die Zustände auf dieser 
traurizen und fündhaften Erde so beschaffen sind, wie sie fromme Gemülther 
sich unter dem Bilde des tausendlährigen Reiches vorstellen, unter diesem 
Bulde, wie es ein alter Kirchenvater sich ausmalte, wo die Tiger und die 
Wölfe sich von Kleien nähren und mit Schafen und Lbämmern zusammen 
spielen, wo jeder Weinstock zehntausend Reben, und jede Rebe zehntausend 
Trauben, und jede Traube zehntausend Beeren, und jede Beere zehntausend 
Maße Wein giebt. Meine Herren, wenn unfre Zuftände so be- 
schafsen find, daß jeder brave deutsche Mann täglich sein Maß 
Wein auf dem Tische hat, weun die Zustände so beschaffen siud, daß 
die politischen Tiger und die socialen Wolfe mit den Lämmern und Schasen 
unfrer menschlichen Gesellschaft friedlich zusammen wohnen, dann, meine 
Herren, stehen wir an dem Ziele, welches in dem Staatswesen seinen 
gebührenden politischen Ausdruck in der Proclamation des allgemeinen, 
directen und gleichen Stimmrechts finden mag. Meine Herren, wer 
wollte es verkennen, daß Zustände allgemeiner Bildung und allgemeinen 
Wohlstandes das große und ernste Ziel aller menschlichen Eutwicklung wer- 
den müssen? Wer wollte es verkennen, daß die Grundsorderung an alle 
politischen Elnrichtungen darin bestehen muß, der menschlichen Eutwicklung 
die Richtung zu diesem Ziele hin zu geben? Ich, der ich mein Leben hin- 
durch mit der historischen Ersorschung menschlicher Dinge mich beschäftigt 
habe, ich bin der Letzte, den ungusgesetzten Fortschrltt der histo- 
rischen Entwicklung in Abrede zu stellen. Ich bin der Letzte, der 
an dem Glauben verzweiseln möchte, daß wir Schritt auf Schritt diesem 
unendlich fern liegenden Ziele uns mit jeder Generation, mit 
ledem Jahrhundert weiter nähern. Aber, meine Herren, kein 
Irrthum erscheint mir verhängnißvoller als der, durch irgend 
ein Gesetz zu declarlren: dieser Zustand sei principiell schon 
erreicht, und nun seien dle einzelnen Gesetze nach diesem Irrthume aus- 
zuprägen und zu gestalten. Der Herr Abgeordnete für Neustettin hat 
versucht, das Princip des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu basiren 
auf die allgemeine Wehrpflicht in unserem Staate, eine Formel, die 
mir schon mehrfach vorgekommen ist, allerdings, soweit ich mich erinnere, 
mehr bei poctischen als bei politischen Köpfen. Einer der namhaftesten 
und heivorragendsten Dichter unferer Gegenwart hat mir diese Erörterung 
mehrfach vorgetragen. Auf politischem Boden bekenne ich, eine consequente 
Stätte für sie nicht entdecken zu können. Denn, meine Herren, wenn sich 
das so verhielte, wenn das Princip richtlg wäre, so würden wir
	        
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