Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band II (2)

568 Schlichtung von Streitigkeiten K. 
eigentliche Lösung der Verfassungsstreitig keiten im Mindesten 
nicht in sichere Aussicht stellt, insofern die Uebereinstimmung der Fac- 
toren der Bundesgesetzgebung in dem wünschenswerthen Augerblick nicht mit 
Sicherheit erzielt werden kann. Es wird aber, wenn diese Ueberein- 
stimmung nicht erzielt wird, der Verfassungsstreit in dem concre- 
ten Falle durch die Berathung in dem Bundesgesetzgebungskörper 
nicht nur nicht gelöst, sondern noch aufs Entschiedenste ver schärft. 
Die Streitfragen werden vielmehr brennender und zwar dadurch, daß eben 
eine Meinungsverschiedenheit innerhalb des Reichstags und des Bundesrathes 
selbst hervorgetreten ist. Wenn also beispielsweise der Reichstag sich auf den 
Standpunkt der Landesvertretung des betreffenden Bundesstaates stellt, dann 
ist es ja unverkennbar, daß der Widerstand dieser Landesvertretung ein nur 
noch schärferer wird, eine Eventualität, die dem Interesse dieses Bundesftaats 
durchaus nicht entspricht. Aber wenn ich selbst absehe von diesem, wie mir 
scheint, durchgreifenden practischen Bedenken, daß die Lösung der Berfassungs- 
streitigkeit auf dem vorgeschlagenen Wege nicht erzielt werden kann, dann 
muß ich aber auch hinzufügen, daß der Satz selbst meiner Ueber z#ugung nach 
aus inneren Gründen durchaus unannehmbar ist und zwar hauptsächlich dar- 
um, weil er die Natur und das Wesen der gesetzgebenden und der richter- 
lichen Gewalt schlechthin verkennt, weil er sie verkehrt und verwirrt und eine 
Rechtsoerwirrung möglicherweise herbeiführt, die allen wahren öffentlichen 
Interessen zuwiderläuft. Es bedarf doch, düchte ich, in Mitten dieses Reichs- 
tags keines Beweises dafür, daß die Aufgabe der Gesetzgebung als solcher 
schlechchin nur die Aufstellung von allgemeinen Rechtsnormen für die Zukunft 
ist, und daß dagegen die Entscheidung eines Rechtsstreites zwischen zwei Par- 
teien über die Anwendung eines bestehenden Gesetzes unbedingt außerhalb der 
Mission einer gesetzgebenden Gewalt liegt. Das ist ja gerade die Aufgabe 
und das Wesen der Gerechtigkeit in jedem Staatewesen, daß jedes bestehende 
Gesetz im concreten Fall durch ein unabhüngiges Gericht aufrecht erhalten 
und gehandhabt wird. Wie sollte es nun möglich sein ohne gänzliche Ber- 
kennung und Verwirrung aller Grundprincipien, worauf die Staatsordnung 
erbaut ist, die Functionen dieser richterlichen Gewalt in die Gesetzgebung u 
verlegen? So wenig ein Gericht jemals innerhalb geordneter Rechtszustände 
ein Gesetz machen kann, so wenig kann die Gesetzgebung ein Urtheil machen, 
— und es würde doch ein Urtheil sein, wenn, sofern ich den Artikel des 
Entwurfs richtig verstehe, durch einen Gesetzgebungsact der Bundesgewalt 
der betreffende Rechtsstreit entschieden werden soll. — Oder soll etwa der Sinn 
des Artikels 70 dahin gedeutet werden, daß durch ein Bundesgesetz nicht blos 
der eingelne Streit entschieden, sondern gewissermaben eine Legalinterpretation 
des streitigen Landesoer fassungsartikels herbeigeführt wird? Soll vielleicht 
eine Declaration des zweifelhaft gewordenen Verfassungsartikels herbeigeführt 
werden? Ja, meine Herren, wenn das die Absicht sein sollte — der Wort- 
laut besagt es sicherlich nicht — wenn dies aber die Absicht sein sollte, dann
	        
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