Arrikel 74—77. Neichensperger. 569
würden unzweiselhaft die Bedenken, die sich gegen den zweiten Absatz erheben,
nicht beseitigt, sondern sie würden verzehnsacht werden. Denn es würde als-
dann die Möglichkeit gegeben sein, das aus Veranlassung eines momentanen
Streites ein Fundamentalsatz irgend einer Landesversassung endghltig beseitigt
würde. Es könnten alsdann in einem gegebenen Moment durch die augen-
blicklichste Mojorität, die in dem Parlamente und Bundesrathe erzielt ist,
die Grundvesten, worauf die bffentliche Ordnung der Einzelstaaten beruht,
beseltigt werden. Es kann aber meines Erachtens nicht ernstlich die Absicht
sein, elnen solchen zweiselhaften Rechtszustand herbrizuführen, — die Grund-
pfeiler des öffentlichen Rechis in dem betreffenden Bundesstaate zu beseitigen.
Allein, meine Herren, es tritt diesen Bedenken noch der weitere Gesichtspunkt
entgegen, daß es lediglich politische Körperschaften sein würden, welche die
Entscheidung zu geben haben, nämlich der Reichstag und der Bundesrath.
Bergegenwürtigen Sie sich nun, aus welchen diametral verschiedenen Grund=
lagen der Reichstag erwachsen soll gegenüber den Landesvertrelungen der Einzel-
staaten, beispielsweise der Preußischen Landesoertretung, die aus einem Wahl-
gesetze hervorgeht, von dem der Herr Präsident der Bundescommissare er-
klärt hat, daß cs das elendeste und erbärmlichste Wahlsystem sel, welches nur
ersonnen werden kann. Es ist doch unmöglich die Eventualität außer Acht
zu lassen, daß dem entsprechend auch scharfe Gegensätze innerhalb der aus
jenen verschiedenen Wahlgesetzen hervorgehenden Körperschaften sich heraus-
stellen werden. Und nun gar der Bundesrath! Derselbe soll durch seine
Stimmenmehrhelt in Verbindung mit der Stimmenmehrhelt des Reichstags
durch ein Bundesgesetz die betreffende Verfassungsstreitigkeit entscheiden. Und
wer ist der Bundesrath? Das sind die einzelnen Regierungen der Deutschen
Bundesstaaten elnschließlich derjenigen Regierung selbst, welche mit ihrer
eigenen Landesvertretung sich im Streite befindet. Diese Reglerung wird
also auf dem Wege, wie er hier vorgeschlagen ist, zum Richter in der elge-
nen Sache gemacht werden! ch weiß nicht, ob das im Jahre 1867 eine
zulässige Rechtsauffassung ist. Was aber die praetische Relevanz dieses Mo-
mentes anlangt, so bemerke ich nur, daß die Königlich Preußische Staats-
regierung 17 Stimmen im Bundesrathe führt, daß sie also nur nöthig hat,
unter den 26 anderen Stimmen noch 5 Stimmen zu gewinnen, um der
Majorltät im Bundesrathe sicher zu sein und ihren Proeeß gewonnen zu
hoben. Ja, meine Herren, will man das einen Rechtszustand nennen, glaubt
man damit die wirklich begründeten Ansprüche der Deutschen Nation auf
Sicherstellung ihrer Verfassungen sichergestellt zu haben? Von meinem Ver-
ständnib liegt dies so unendlich weit ab, daß ich einer solchen Eventnalität
meine Zustimmung nie geben kann, um so wenlger, als sowohl der Reichs-
tag, als der Bundesrath wesentlich den Charakter einer politischen Körper-
schast hat, also weit mehr die Postulate des Augenblicks als maßgebend er-
achten wird ale den eigentlichen materiellen Sinn der betreffenden Verfassungs=
bestimmung, wie sie sich aus der Entstehungsgeschichte und den Preedentien