Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band II (2)

74 Reichstag. 
hesezt werde, bis ein Vertreter der Reglerung über den wichtigen 
Gegenstand sich Zußern könne, war es der Abgeordnete für Hagen, 
welcher meinte, die Aussetzung sei unnöthlg, denn aus der ganzen Sach- 
lage, wie aus der Abwesenheit von Reglerungscommissarien solge, daß die 
Regierung dem Gesetze zustimme, nam qui tacet consentire videtur. 
Damals mußte man dem citirten juristischen Satz beistimmen, 
und das Haus hat ihm beigestimmt, well die Regierung durch 
lhre Organe verbreitet hatte, daß sie den Anspruch nur für 
gerechtfertigt halte. Ohne jede Debatte hat das Abgeordnetenhaus 
einstimmig, wie ich glanbe, oder doch nur gegen vereinzelte Stim- 
men, den Antrag angenommen; sämmtliche Mitglieder der conservativen 
Partei, auch dlejenigen, welche mit der Regierung in der engsten Verbindung 
standen, haben für die Annahme des Antrages gestimmt, und es herrschte 
nirgend ein Zweisel, daß der Vorschlag zum Gesetz werden würde. Selbst 
die Commission des Herrenhauses hat in Üüberwiegender Mehr- 
heit für dies Gesetz sich entschieden, und es herrschte innerhalb 
der Kreise, in denen die Herren sich zu bewegen pflegen, und außerhalb 
dieser Kreise, nicht der mindeste Zweifel, daß das Gesetz auch dle 
ge fährliche Tour durch das Herrenhaus glücklich durchmachen 
würde. Der Reserent nahm das Wort noch In derselben Mel- 
nung. Aber nun geschah, was in der parlamentarischen Geschichte bis 
dahin unerhört war. Iu der Versammlung nahm der Ministerprä- 
sident das Wort und erklärte, zur Ueberraschung seiner Freunde, daß 
die Regierung unter keinen Umständen dem Gesetze zustimmen 
könnte. In den Preußischen Gesetzen sei allerdings die Strassreiheit der 
Berichte zugesichert und er sehe sich außer Stande, eine Abänderung der 
Preußischen Gesetze herbeizuführen. Aber de lege ferenda musse er 
Widerspruch erheben und die Zustimmung der Regierung ver- 
sagen. Und es geschah wiederum etwas, was nicht geeignet ist, 
das Ansehen einer parlamentarischen Körperschaft zu stärken, 
daß einzelne Mitglieder des Herrenhaufes sich förmlich ent- 
schuldigten, sie hätten in der Commission für das Gesetz ge- 
stimmt, weil sie gemeint hätten, die Regierung verhielte sich 
neutral dazu; nun aber müßten sie ihre Zustimmung zurücknehmen. 
So fiel das Gesetz im Herreuhaus gegen einige wenige Stim- 
men. Meine Herren! Was dazwischen gelegen hat, weshalb der Herr 
Ministerpräsident sich bewogen gesunden hat, die offenbare Stellung der Re- 
gierung, wie sie durch den scharssichilgen Blick des Abgeordneten für Hagen 
interpretirt worden, plötzlich zu verändern, weiß ich nicht. Soviel weiß ich 
aber, daß ein bloßer und bisher unaufgeklärter Zufall eine wesentliche Ga- 
rantie, welche in der Meinung des ganzen Volkes für geslchert schlen, in 
dem letzten Stadium der Gesetzgebung zu Falle brachte, und in demselben 
Herrenhause, dessen Commission mit überzeugender Wahrheit gegen drei
	        
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