Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

562 Würtemberg. Kammer der Abgeordneten. 
kein Gesetz, das das Vereinsrecht garantirt. Es gilt heute noch das Straf- 
gesetz und das Polizeistrafgesetzbuch von 1839. Nach der bestehenden Gesetz- 
gebung kann die Staatsregierung jeden politischen Verein, welcher Statuten 
hat, nach ihrem Ermessen verbieten; wird er dennoch fortgesetzt, so treffen 
Diejenigen, welche den Verein fortsetzen, ziemlich hohe Kriminalstrafen. Das 
ist unsere Vereinsfreiheit! Wir können Preß- und Vereinsfreiheit nur dadurch 
gewinnen, daß die Zuständigkeit des Deutschen Reiches darauf ausgedehnt 
wird, verlieren können wir nichts. Sodann ist die Reichsverfassung ange- 
fochten worden, weil, was das Militärbudget angeht, der Reichstag so gut 
wie gar nichts zu sagen habe, weil, wenn für 1872 und die folgenden 
Jahre eine Vereinbarung über die Friedensstärke nicht zu Stande komme, der 
bisherige Zustand fortgelte. Das ist durchaus unrichtig und im Art. 60 der 
Verfassung steht, daß von 1872 ab die Friedensstärke durch die Gesetzgebung ge- 
regelt werden solle und dieß nur mit Zustimmung des Reichstags geschehen 
könne. Es wurde darüber auch geklagt, daß gewisse Einnahmen des Reiches 
firirt seien, daß diese der Zustimmung des Reichstages nicht unterliegen, daß 
eine gewisse Ausgabe, nämlich 225 Thaler für den Kopf der Friedensprä- 
senzstärke, ebenfalls firirt sei. Das ist richtig, aber meine Herren, das ist 
durchaus kein Grund zur Beschwerde. In dem Staat, der für alle andern 
von jeher das Muster des Konstitutionalismus war, in England, sind große 
Summen der Einnahme und Ausgabe des Staats ein= für allemal gesetzlich 
firirt — Summen, über die das Parlament nicht mehr zu verfügen hat: 
60,000 Pfd. der Einnahmen und 30,000 Pfd. der Ausgaben sind in dieser 
Weise gesetzlich ein= für allemal festgestellt. Meine Herren! Ich denke, eine 
Einrichtung, wobei England bestehen kann, wird auch uns das Leben nicht 
unerträglich machen. Wir mögen an der Reichsverfassung ausstellen, was 
wir wollen, dennoch bleibt uns, wie ich gezeigt habe, absolnt nichts anderes 
übrig, als anzunehmen: wir müssen sie aunehmen, auch wenn wir uns le- 
diglich auf den würtembergischen und nicht auf den deutschen Standpunkt 
stellen; wir müssen sie annehmen, weil die Eristenz Würtembergs daron ab- 
hängt, und das würtembergische Volk will, daß man sie annimmt; das 
würtembergische Volk hat seine Vertreter gerade zu dem Zweck gewählt, daß 
sie diese Verfassung zur Wirklichkeit machen. Wenn man sagt, diese Ver- 
fassung sei zu kurz vor den Wahlen bekannt gewoerden, so ist zu entgegnen, 
daß die Verfassung des Nordbundes, im wesentlichen die Reichsverfassung 
ist, und jene ist gut bekanut im Lande, seit sie eristirt; — unsere Gegner 
haben so viel geschimpft darüber in der Presse und in Versammlungen, daß 
das würtembergische Volk zum Ueberdrusse daron gehört hat. Das würtem- 
bergische Volk verlangt aber die Annahme gottlob nicht von uns, weil es 
auf den würtembergischen Standpunkt sich stellt, sondern weil es deutsch 
fühlt. Das würtembergische Volk hat sich selbst wiedergefunden. Wie es den 
Appell an die Furcht zurückgewiesen hat, so weist es jetzt den Appell an den 
beschränktesten Eigennutz zurück; das würtembergische Volk will mit seinem
	        
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