Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

768 Baiern. Kammer der Abgeordneten. 
Sachlage zwischen dem Januar 1870 und dem Januar 1871 gar nichts 
geändert, und als bestehe noch ebenso gut wie damals die Möglichkeit, es so 
oder anders zu machen. Meine Herren, mir ist das immer ganz unerklärlich 
gewesen und ich bin diesem Irrthum in der letzten Diskussion so häufig be- 
gegnet, daß ich mir sagen mußte, es liege hier mehr als Irthum eines 
Einzelnen, mehr als die Vergeßlichkeit einer Person, es liege das Symptom 
einer weit verbreiteten politischen Krankheit vor. — Freie Wahl und freie 
Wahl — ist je nach Umständen etwas ganz Verschiedenes. Meine Herren, 
die freie Wahl, zu den Verträgen „Ja“ oder „Nein“ zu sagen, haben Sie 
staatsrechtlich zweifellos. Es hat meines Wissens auch noch Niemand be- 
hauptet, daß eine rechtliche Zwangslage für irgend Jemanden bestehe und 
es ist daher ganz überflüssig, daß wiederholt von Ihnen dagegen protestirt 
wird. Sie haben rechtlich vollständig freie Wahl! Ob diese voll- 
ständige Freiheit der Wahl auch moralisch gegeben ist, das, meine Herren, 
ist eine andere Frage, deren Beantwortung Ihnen selbst zusteht. Denken 
Sie sich einen Fall aus dem gewöhnlichen Leben! Es hat jeder Mensch freie 
Wahl — abgesehen ven der Moral — die rechtliche und thatsächliche freie 
Wahl, ob er am Leben bleiben oder sich selbst umbringen will. Diese freie 
Wahl kann Niemandem entzogen werden. Es ist aber klar, daß einiger 
Unterschied besteht zwischen der freien Wahl, welche das Individuum hat, 
insoweit es über sich selbst zu verfügen sich anschickt, und zwischen der freien 
Wahl, welche dasselbe Indiriduum hat, insoweit es nicht kraft eigenen Rechtes 
sondern kraft Mandats handelt und über den Mandanten verfügt. Sich 
selbst umzubringen, dazu hat Jeder das Recht; aber seinen Mandanten oder 
ein ganzes Volk umzubringen, dazu berechtigt kein Programm und kein 
Mandat. Es kann übrigens auch Niemand Demsjenigen, der ein Programm 
sich angeeignet hat und davon wieder abgeht, weil dessen Durchführung un- 
möglich wurde, den Vorwurf machen, daß er sein Wort nicht gehalten 
habe. Es ist Niemand zum Unmäglichen verpflichtet! Wenn wir Ihr Pro- 
gramm vergleichen mit der heutigen thatsächlichen Lage, so können und 
müssen wir Ihnen das Zeugniß geben, daß Ihr ursprüngliches Programm 
nicht mehr ausgeführt werden kann. Sie sind dafür nicht verantwortlich. 
Die Ereignisse haben entschieden, nicht Sie! Der Herr Abg. Dr. Pfahler 
hat freilich vorhin wieder angedeutet, daß eigentlich gar kein Grund da sei 
zu der Annahme, es habe sich seit der Aufstellung Ihres Programms der 
Boden geändert, auf dem es aufgebaut worden ist. Ich kann nicht dafür 
einstehen, ob es mir oder irgend Jemanden gelingen werde, dem Herrn 
Dr. Pfahler klar zu machen, daß er hiebei in einem großen thatsächlichen 
Irtthume sei; aber Sie werden mir gestatten, daß ich Ihnen erzähle, was 
mir einmal im Verkehre mit einem andern Manne, der auch ein großer 
Politiker in seiner Art war, begegnet ist. Vor dem Jahre 1866 verkehrte 
ich häufig mit einem Manne, der sich damit beschäftigte, die Grundzüge der 
künftigen Gestaltung des Deutschen Reiches nach seiner Idee aufzustellen.
	        
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