Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

872 Erste Session des deutschen Reichstages. 
wird: die Staatsgewalten, die diesen Vertrag abgeschlossen haben, haben nicht 
zu Recht bestanden — und umgekehrt wird durch den Abschluß eines solchen 
Vertrages nicht auerkannt, daß die faktisch bestehenden Staatsgewalten recht- 
lich bestehende sind. Das ist meiner Ausicht nach ein anerkannter staats- 
rechtlicher Satz. Eine entgegengesetzte Auslegung würde zu den widersinnig- 
sten Kensequenzen führen. Es würde dann z. B. mit Giund vielleicht gesagt 
werden können oder wenigstens würden große Bedenken erhoben werden können, 
ob die Friedenspräliminarien mit Frankreich gültig abgeschlossen find. Meine Her- 
ren, bei Vertsägen hat man nicht zu forschen, ob die Staatsgewalten recht- 
lich bestehen oder nicht, sondern mit den faktisch bestehenden Staatsgewalten 
schließt man rechtsgültig einen Vertrag ab. Ich sehe mich zu dieser Ver- 
wahrung um so mehr veranlaßt, als die mecklenburgische Berölkerung durch 
die Wahlen hinlänglich ihren Willen dokumentirt und ausschließlich solche 
Abgcordnete gewählt hat, welche sich ausdrücklich verpflichtet 
haben, im Reichstage nach Kräften für Wiedereinführung einer 
konstitutionellen Verfassung iu Mecklenburg zu streben. Ich 
beabsichtige übrigens mit dieser Verwahrung nicht zu sagen, daß gerade auf 
diesem Wege, auf Grund des Artikels 76, die Verfassungsfrage in Mecklen- 
burg wiederum in Anregung gebracht werde. Ich hoffe auch im dringenden 
Interesse des Deutschen Reiches und der mecklenburgischen Bevölkerung, daß 
der Bundesrath und der Reichstag sich über einen Weg verständigen werden, 
der zum Jiele führt und Mecklenburg aus einer Lage befreit, welche, wie 
der Herr Abgeordnete Miqnel in der Sitzung vom 7. Dezember vorigen 
Jahres richtig bemerkte, den heutigen Kulturzuständen in Deutschland nicht 
entspricht. 
Bundeskanzler Fürst v. Bismarck ’): Ich erlaube mir nur, der vielleicht 
bestehenden Vorauosetzung entgegenzutreten, als ob die Wahl zwischen den 
Worten „Reich" umd „Bund" in der Ihnen vorgelegten Redaktion eine will- 
kürliche oder zufällige gewesen wäre. Daß beide Ausdrücke nach wie vor 
zulässig sind, geht meines Erachtens aus dem Eingange der Verfassung her- 
vor, aus den Worten: „Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich 
führen"“" — es ist also eine Fortdauer des Bundesverhältnisses als Grund- 
lage gedacht. Die Fragen haben meines Erachtens eine wesentliche, prinzi- 
pielle Bedeutung nicht, sondern nur eine sprachliche, und uns hat das Be- 
streben geleitet, für den rechtlichen Begriff den angemessenen sprachlichen Aus- 
druck zu finden. Wir sind davon ausgegangen, den Auedruck „Reich" nur 
da zu gebrauchen, wo von einem Inbegriff der staatlichen und hoheitlichen 
Attribute die Rede ist, welche auf die Gesamunteit übertragen worden sind: 
dem Ausdruck „Bund“ dort seine Anwendung zu belassen, wo mehr die 
55 St. B. S. 95 l. g. o.
	        
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