874 I. Session des Deutschen Reichatages.
daß durch diese Redaktion in keinem Theile das bereits abgeschlossene, be-
stehende Recht verändert werden kann. Selbst wenn ein Irrthum in diese
Redaktion sich mitunter einschleichen sollte, selbst wenn irgend ein Satz viel-
leicht durch diese Redaktion nicht die passende Stelle bekommt, so wird man
doch in Zuk#mft bei jedem durch die Worte nicht ausgetragenen Zweifel das
Recht haben, zurückzugehen auf die Verträge, die wir genehmigt haben, als
auf ein gewisses Aufklärungsmaterial; während aus dem Umstande, daß wir
die Redaktion so oder anders heute gefaßt haben, nicht ohne Weiteres her-
vorgehen wird, daß wir das bestehende Recht haben ändern wollen. Meine
Herren, ich habe noch einen anderen Grund, weshalb ich für mich von jeder
materiellen Behandlung der Verfassung an diesem Tag absehen möchte, und
aus dem ich gewünscht hätte, daß von anderen Seiten Gleiches geschchen
wäre, weshalb ich an einer materiellen Debatte über den Inhalt der Ver-
fassung in keiner Weise Antheil zu nehmen gedenke. Ich meine, daß jede
Nation einmal eines Ruhepunktes bedarf, in dem sie sich freut der Dinge,
die sie vollendet hat (Sehr wahr!) — besonders Deutschland, das so lange ge-
uamgen hat, um überhaupt eine Verfassung zu erhalten (wenn auch eine
Verfassung mit den Mängeln, wie sie jedem menschlichen Werk cigenthümlich
sind, also weit mehr noch dem Verfassungswerk der Nation, welche mit so vielen
geschichtlichen Hemmnissen und Hindernissen hat kämpfen müssen). Daß diese
Hindernisse nicht ohne Mängel und auf ein Mal vollkommen werden besei-
tigt werden, haben wir Alle gewußt. Während wir gegenwärtig an die
Frucht der großen Thaten der Nation, an die Frucht der Staatsweisheit,
welche gewußt hat diese Thaten zu Gunsten der Nation zu verwerthen, den
Maßstab anlegen, da geziemt es der Nation, einige wenige Tage wenigstens
sich zu erholen, den Streit ruhen zu lassen und sich dessen zu freuen, was
sie kraft ihres inneren Geistes trotz der äußeren Hindernisse zu erreichen ge-
wußt hat durch Festigkeit und Bescheidenheit. Dies, meine Herren, ist mein
Standpunkt, weshalb ich wenigstens für meine Person mich enthalten werde,
in jede materielle Debatte mich zu mischen, und irre ich nicht, so darf ich
auch wohl im Namen der politischen Freunde sagen, daß dies es ist, was
sie bewegt, an keiner Stelle umd an keinem Orte darauf einzugehen irgend
eine materielle Aenderumg in der Verfassung vorzunehmen, welche zu einem
Streite in diesem Hause Veranlassung geben könnte. (Lebhaftes Bravo.)
Bundeskanzler Fürst v. Bismarch’'): Ich kann mich der soeben ge-
äußerten Ansicht nur ans voller Ueberzeugung anschließen, nicht nur im eige-
nen Namen sondern auch im Namen des Bumdesraths, der dieselbe Ansicht
in seinen Motiven bereits angedentet hat, und ich habe nicht nöthig, nach
*) St. B. S. 95 r. u.